Erntehilfe statt Klausuren Krefelder Abiturienten fordern Freiwilligkeit für Prüfungen

Krefeld · Krefelder Abiturienten fordern, dass die Teilnahme an einer Abi-Prüfung freiwillig ist. Ein Gedanke: Mit der gewonnenen Zeit könnten die Schüler als Erntehelfer eingesetzt werden. Wir dokumentieren das Papier der Schüler.

 Sie haben einen offenen Brief (per Mail) an Schulministerin Gebauer verfasst und erhalten nun eine landesweite Welle der Zustimmung (v.l.): Luke Wiedefeld, Felix Heilemann, Emil Kreten und Lorenz Kowalle vom Stadtpark-Gymnasium in Uerdingen. Beim Foto wurden die Corona-Abstandsregeln eingehalten.

Sie haben einen offenen Brief (per Mail) an Schulministerin Gebauer verfasst und erhalten nun eine landesweite Welle der Zustimmung (v.l.): Luke Wiedefeld, Felix Heilemann, Emil Kreten und Lorenz Kowalle vom Stadtpark-Gymnasium in Uerdingen. Beim Foto wurden die Corona-Abstandsregeln eingehalten.

Foto: Lammertz, Thomas (lamm)

In einem Brief an NRW-Schulminsterin Gebauer (FDP) begründen Schüler vom Gymnasium am Stadtpark differenziert ihre Forderung einer freiwilligen Teilnahme an den diesjährigen Abiturprüfungen. Das Schreiben gibt Einblicke in die Gefühls- und Gedankenwelt von Abiturienten in einer doppelten Ausnahmesituation: Sie stehen erstmals vor den Abiturprüfungen, zudem finden diese Prüfungen unter historischen Bedingungen statt. Wir haben uns entschlossen, die Mail leicht gekürzt zu dokumentieren (zudem ohne Genderisierung ‚Schülerinnen und Schüler’).

Private Situation der Schüler: Wegen des Coronavirus stehen Teile der Schülerschaft privat enorm unter Druck. Zum einen besteht täglich die Gefahr, sich zu infizieren und damit sich und andere in gesundheitliche Gefahr zu begeben. Zum anderen haben wir, wie auch richtigerweise von der Regierung so oft hervorgehoben wird, eine Verantwortung gegenüber den Älteren und Schwächeren, welche in fast allen direkten Familienumfeldern  vorzufinden sind. Dazu kommt, dass die Auswirkungen des Virus im privaten Umfeld oftmals gerade die Abiturienten spüren. So müssen Schüler unter uns sich um Geschwister kümmern. Teile haben bei sich Zuhause Stresssituationen durch die Jobsituation der Eltern, was Sie zusätzlich unter Druck setzt und uns Abiturienten in eine Situation bringt, welche mit anderen Jahrgängen nicht zu vergleichen ist.

Unzureichende Vorbereitungen: Die Vorbereitung in den Schulen auf das Abitur in NRW ist unserer Meinung nach in der aktuellen Lage unzureichend. Aufgrund der fehlenden drei Wochen Unterrichtszeit sind in einem großen Spektrum der Fächer die Vorbereitungen nicht oder nur in einem unzureichenden Teil erfolgt. Dieser Zustand variiert je nach Fach und Schule, weshalb die Diskrepanzen noch unterschiedlicher ausfallen. Darüber hinaus haben wir kaum  Feedback zu unseren Vorabi-Klausuren erhalten, wodurch ein Säule, die man zu der Vorbereitung auf das Abitur herbeizieht, wegbricht. Der teilweise angebotenen Online-Unterricht ist einerseits aufgrund zahlreicher technischer Hürden, die je nach Schule und technischen Kenntnissen Aller unterschiedlich schwer ins Gewicht fallen, eine akute Behinderung. Eine richtige Abiturvorbereitung ist  unserer Auffassung nach nicht möglich.

Nicht vorhandene Chancengleichheit: Wir sehen die Chancengleichheit, die eine essentielle Grundlage für das Abitur darstellt, in der aktuellen Situation als nicht gegeben an. Die Vorbereitung in den Schulen ist sehr unterschiedlich weit vorangeschritten. In einigen Schulen sind alle Themen  behandelt worden, in anderen nur in Teilen.  Wir erkennen zwar auch die Möglichkeit, dass dieser Zustand durch Unterricht nach den Ferien verändert werden könnte, jedoch ist dieser unserer Ansicht nach aus gesundheitlichen Gründen und den schon genannten Stresssituation, denen die Schüler ausgesetzt sind, nicht als vollwertig anzusehen. Vor allem ist die Ausgangslage nicht bei allen Schülern dieselbe.

 Schüler, welche Zuhause schlechte technische Voraussetzungen haben, um an Online-Kursen oder Ähnlichem teilzunehmen, haben eine deutlich schlechtere Möglichkeit, sich auf Prüfungen vorzubereiten. Ein Abitur, dass nach den aktuellen Plänen umgesetzt wird, bewirkt, dass Mitschüler aus  sozial schwachen Haushalten aufgrund nicht vorhandener Mittel und Möglichkeiten benachteiligt sind. Uns ist bewusst, dass ein solcher Zustand nicht immer zu vermeiden ist und auch im Falle einer Wahlmöglichkeit wohl nicht komplett aus der Welt geschaffen wäre. Wenn wir Schüler jedoch die Möglichkeit hätten, selber zu entscheiden, wie wir mit den Prüfungen verfahren wollen, könnten wir unsere eigene Lage selber einschätzen und abwägen, ob wir durch Prüfungen benachteiligt wären oder nicht.

Im Vergleich zu anderen Jahrgängen, aber auch anderen Bundesländern, welche die Prüfungen schon abgelegt haben, fehlen uns Mittel und Wege, Maßnahmen zu ergreifen, welche normalerweise zu einer vollwertigen und gerechten Vorbereitung auf das Abitur dazugehören. Wir haben nicht die Möglichkeit uns in Lerngruppen zu organisieren, nicht die Möglichkeit, uns in einer ruhigen und zum Lernen förderlichen Atmosphäre und Umgebung vorzubereiten, und auch nicht die Möglichkeit, einen Tagesablauf zu haben, der uns den Raum bietet einen Ausgleich zum Lernen und dem damit verbundenen Stress zu schaffen.

Gesundheitliches Risiko: Sollte es zur Unterrichtsdurchführung und verpflichtenden Abiturprüfungen kommen, so würden 78.000 Abiturienten wieder in die Schulen kommen. Dass es durch zeitliche Verschiebungen und kleinere Gruppen  zu einer räumlichen Entzerrung bei den Abi-Prüfungen kommen könnte, ist nicht von der Hand zu weisen. Aber wie effektiv dies in der Wirklichkeit tatsächlich ist, ist schon am Beispiel unserer Schule zu hinterfragen. Enge Flure und  größtenteils eher unhygienische Sanitäranlagen sehen wir als Hauptaspekte, warum  keine effektiven Hygienemaßnahmen eingehalten werden können.

Auch der Schulweg - gerade über öffentliche Verkehrsmittel - stellt immer ein Risiko dar. Spätestens am Tag der Prüfungen würden zahlreiche Schüler aufeinandertreffen. Wir sind davon überzeugt, dass ein hundertprozentiger Schutz nicht gewährleistet werden  werden kann. Dies ist zwar auch im Alltag der Fall, aber ob man uns Schüler dazu verpflichten sollte, uns einem vermeidbaren Infektionsrisiko auszusetzen, sehen wir als fragwürdig und  fahrlässig an. Dass in der aktuellen Lage für unsere Unterrichtszeit und Prüfungen genug Hygieneartikel zur Verfügung stehen, ist auch noch nicht gesichert.

Fehlende Planungssicherheit: Dieser Punkt betrifft besonders uns Schüler in NRW. Als ab dem 13.März der Unterricht entfiel, gingen wir zunächst davon aus, dass wir zu den damals noch aktuellen Abiturterminen schreiben. Am 27.März wurden diese Termine dann verschoben. Im Laufe dieser Woche und der Woche davor kamen dann immer neue Aussagen hinzu, welche  den möglichen Ausfall des Abiturs wieder in den Vordergrund stellten und  sich fortwährend widersprechen. Dieser Fakt sorgt dafür, dass für uns Schülern ein für das Lernen wichtiger Zielzeitraum nicht gegeben ist.

Mit dieser Verwirrung und den privaten Problemen fällt es sehr schwer, sich zielorientiert auf Prüfungen vorzubereiten.

Zur Leistungsbilanzierung: Wir haben zwei Drittel der Leistung bereits erbracht, wodurch eine Bewertung nach der bis zu diesem Zeitpunkt erbrachten Leistung möglich wäre. Als 78.000 Abiturienten könnten wir der Gesellschaft ohne das Wackelthema Abitur im Hinterkopf in vielen Formen in der Krise weiterhelfen, zum Beispiel als Erntehelfer. Die oftmals aufgestellte These, dass wir Abiturschreiber nur daran interessiert sind, keine Prüfungen schreiben zu müssen, können wir auf den ersten Blick als Sichtweise Außenstehender nachvollziehen. Jedoch sind wir im Bilde darüber, dass natürlich ein möglicher Wegfall der Abiturprüfungen kein idealer Zustand ist und dass eine normale Durchführung immer der erstrebenswerte Zustand sein sollte.“

Die Unterstützter (die Schüler sind jeweils namentlich genannt) kommen unter anderem vom Gymnasiums am Stadtpark, Gymnasium Horkesgath, Gymnasium Horkesgath, Maria-Sibylla-Merian Gymnasium, Maria-Montessori-Gesamtschule, Kurt-Tucholsky Gesamtschule, Vera Beckers Berufskolleg, Marienschule, Gesamtschule Kaiserplatz, Gymnasium am Moltkeplatz, Michael-Ende Gymnasium (Tönisvorst); Mercator-Gymnasium (Duisburg), Leibniz Gymnasium (Essen), Carl-Human-Gymnasium (Essen).

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