Krefeld Eine Tasse Menschlichkeit

Krefeld · Die Bahnhofsmission lädt ihre Gäste zu einer Tasse Kaffee ein - diese Geste ist möglich, weil es große Bereitschaft zu Kaffee-Spenden gibt. Wie gut eine einfache Tasse tun kann, verstehen die Menschen offenbar. Teil vier unserer Adventsreihe.

 Blick von der Theke in den Schankraum und durchs Fenster auf den Bahnhof von Krefeld: In der Bahnhofsmission werden Menschen zu einer Tasse Kaffee eingeladen.

Blick von der Theke in den Schankraum und durchs Fenster auf den Bahnhof von Krefeld: In der Bahnhofsmission werden Menschen zu einer Tasse Kaffee eingeladen.

Foto: Thomas Lammertz

Es ist Zeit für eine kleine "Wir gehen einen trinken"-Kunde.

 Annelie Plümer ist ehrenamtliche Mitarbeiterin bei der Bahnhofsmission. Rund 30 Ehrenamtler arbeiten dort. Im Hintergrund ist das kleine Gebäude zu erkennen, in dem die Bahnhofsmission untergebracht ist. Es steht am Ende von Gleis 1.

Annelie Plümer ist ehrenamtliche Mitarbeiterin bei der Bahnhofsmission. Rund 30 Ehrenamtler arbeiten dort. Im Hintergrund ist das kleine Gebäude zu erkennen, in dem die Bahnhofsmission untergebracht ist. Es steht am Ende von Gleis 1.

Foto: Lammertz Thomas

Wenn Männer sagen "Lass uns ein Bier trinken gehen", heißt das keineswegs, dass man Bier trinkt; beim Gespräch geht es um Privates, Gott und die Welt und um wahre Freundschaft.

In "Ich setz jetzt mal einen Tee auf"-Situationen geht es oft um das Innerste der Seele. Teetrinkerinnen umfassen die Tasse mit beiden Händen und falten sich gern so auf einem Stuhl zusammen, als sei das Knäuel aus Mensch und Sitzgelegenheit für die Ewigkeit bestimmt. So im Unentwirrbaren harrend, tauscht man keine Rezepte aus, sondern den Stand seines Karmas.

Und man kann jemanden auf einen Kaffee einladen. Es ist dies die schönste und leichteste Einladung überhaupt, der wundervollste Türöffner zur Seele - wundervoll vor allem deshalb, weil man die Türe nicht öffnen muss. Eine Tasse Kaffee ist das Angebot, kurz oder ewig beisammen zu sein. Kaffee kann das Päuschen in einem Chaos-Tag oder der Beginn einer tiefen Freundschaft sein oder der Auftakt für immerwährende Liebe. Oder eben nichts von allem, sondern nur ein Kaffee und ein bisschen Quatschen. Nichts muss, vieles kann. Mit einem Kaffee scheitert niemand; Kaffee ist die ultimative kommunikative Entwarnung: Ob Karma oder Rezepte - wir sind guter Dinge beieinander. Mensch mit Mensch sein glückt bei einer Tasse heißen Kaffee stets unangestrengt.

Die Leute verstehen das, und hier mag der Grund liegen, warum der Aufruf der Bahnhofsmission, Kaffee zu spenden, immer auf große Resonanz stößt. Annelie Plümer, Mitarbeiterin bei der Bahnhofsmission, ist ebenso dankbar wie erstaunt darüber. Gerührt erinnert sie sich an eine Szene, als ein Trupp Senioren aus der Kursana-Residenz am Hansazentrum vor der Bahnhofsmission stand: Senioren mit Rollstuhl und Rollator mit 28 Päckchen Kaffee - gespendet von Menschen, die selber nicht viel Geld haben. Die Kaffeepäckchen rechnet Plümer in Schichten um: "Pro Schicht verbrauchen wir etwa eineinhalb bis zwei Päckchen Kaffee, um unsere Gäste zu einer Tasse einladen zu können", sagt sie. Eine Schicht, das sind je drei Stunden vormittags und nachmittags.

Wer sind die Gäste der Bahnhofsmission? "Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben", sagt Plümer. Gestrauchelte, Gescheiterte, Verarmte, Drogenabgängige, Spielsüchtige. Leute eben, deren Leben desolat und aus den Fugen geraten ist. Oder Rentner, die so arm sind, dass sie sich in der Bahnhofsmission mit Schicksalsgenossen auf einen Kaffee treffen.

Zu den Besonderheiten der Klientel gehört, dass man ihr Leben nicht zum Guten wenden kann. "Gerade junge ehrenamtliche Helfer kommen manchmal mit einem unglaublichen Elan und wollen die Lage der Menschen, die zu uns kommen, verbessern", berichtet Plümer. Sich von diesem Ziel zu verabschieden, gehört zu den Dingen, die man in der Bahnhofmission lernen muss. Es geht um Begleitung, um Zuwendung, um Hilfe im Kleinen und nicht darum, ein ent-bürgerlichtes Leben wieder in bürgerliche Bahnen zu lenken. "Man darf diese Schicksale nicht zu sehr an sich herankommen lassen", sagt Plümer, "Empathie und Mitgefühl ja, aber wenn man anfängt mitzuleiden, wird man das hier nicht aushalten", sagt sie. Und sie weiß, wovon sie spricht: Die 74-jährige, seit ihrer Pensionierung bei der Bahnhofmission engagiert, war Grundschullehrerin in Hüls und weiß, was es heißt einzugreifen: Wenn Kinder zu Hause brutal geprügelt werden oder nicht zur Schule kommen - "manchen Eltern musste man sagen: Und wenn dein Kind nicht morgen um acht in der Schule ist, hetze ich dir die Fürsorge auf den Hals." So, mit Behörden und Gesetzen im Rücken, konnte man etwas tun. Etwas bewegen. Vielleicht: etwas wenden. Im Kindesalter ist das möglich. Kaum aber bei Erwachsenen, die zur Bahnhofsmission gehen.

Und so sagt Plümer jungen Mitarbeitern, die vom Glauben beseelt sind, am Leben der Gäste etwas zu ändern: "Bring deine Freude und dein Lachen mit, aber versuche nicht, die Probleme mit in dein Leben zu nehmen." Diese Haltung ist wiederum nicht mit Resignation zu verwechseln. Es geht schlicht um die Art Zuwendung, die hier Nächstenliebe ausmacht: den Gästen freundlich zugewandt sein. Auf jedem Tisch stehen Blumen, alles ist sauber; "jeder bekommt hier eine Untertasse" - mit dem Kaffee wird auch Kultiviertheit vermittelt. Zuvorkommend behandelt zu werden wie ein Gast, ist im Leben dieser Gäste eher die Ausnahme. Und das Leben der Menschen, die zur Bahnhofsmission kommen, wäre ohne diese Zuwendung eben noch etwas bitterer und ärmer. Hilfen im Kleinen sind etwa Briefe an die Stadtwerke, wenn der Strom abgeklemmt zu werden droht. Oder mal einen Lebenslauf formulieren. Oder ein klärendes Gespräch mit der Polizei führen. Oder einfach zuhören, wenn jemand aus seinem Leben erzählt. Plümer berichtet von einem Ingenieur, der eine gut gehenden Firma hatte, die Bankrott ging; er hielt sich eine Weile als Angestellter über Wasser, verlor auch diesen Job, wurde zum Alkoholiker, die Familie zerbrach, am Ende war er allein. Und Gast in der Bahnhofsmission. Wie immer die Schicksalserzählungen lauten, wie wenig auch die Einsicht da sein mag, dass man selbst verantwortlich ist für seinen Weg - es gibt in der Bahnhofsmission keinen pädagogisch erhobenen Zeigefinger, betont Plümer.

Beim Abschied denkt man: Dieses kleine Gebäude am Ende von Gleis eins ist keine Besserungsanstalt. In der Bahnhofsmission gibt es für Menschen, die müde sind, geschlagen, arm und gehetzt von inneren Dämonen, nur eine Tasse Ruhe, nur ein Kännchen Durchatmen, nur einen Teelöffel Wertschätzung. Aber was heißt schon "nur": Die Welt wäre kälter ohne sie.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort