Krefeld Die Kammer des Schreckens

Krefeld · Vor 85 Jahren ließ die Stadt Krefeld einen Zugang zum Turm der Linner Burg graben. In dem Raum, der bis 1794 als Gefängnis diente, fanden sich auch Menschenknochen. Der Abstieg in diesen Turm ist ein spannender Ausflug in die mittelalterliche Rechtsgeschichte.

 Christoph Reichmann am Grunde des Turms der Linner Burg. Der Raum diente bis 1794 als Gefängnis. Die Stadt hatte die Burg 1925 von der Familie de Greiff gekauft.

Christoph Reichmann am Grunde des Turms der Linner Burg. Der Raum diente bis 1794 als Gefängnis. Die Stadt hatte die Burg 1925 von der Familie de Greiff gekauft.

Foto: Strücken, Lothar

Als er geöffnet wurde, kamen Knochen zutage - Menschenknochen. Jahrhunderte war dieser Raum ein Ort für Verlorene: ein Gefängnis, ein Hochsicherheitstrakt für Schwerverbrecher, eine wahre Kammer des Schreckens. Vor 85 Jahren wurde sie geöffnet: 1927 beschloss die Stadt Krefeld, einen Zugang zum Turm der Linner Burg durch die meterdicken Mauern zu brechen.

 Durch diesen Eingang gelangt man ins Innere des Turms. Von da aus geht es noch einiger Meter per Leiter in die Tiefe.

Durch diesen Eingang gelangt man ins Innere des Turms. Von da aus geht es noch einiger Meter per Leiter in die Tiefe.

Foto: Strücken, Lothar

Jahrhunderte war der Burgfried nur von oben durch eine Öffnung im Fußboden zugänglich - nun wollte man sehen, was am Grunde des Burgfrieds verborgen war. "Neugier", vermutet Christoph Reichmann, Leiter des Museums Burg Linn über das Motiv.

 Hier durften Angehörige Essen zu den Gefangenen herablassen; die Finger liegen in dem Führungslauf für das Seil.

Hier durften Angehörige Essen zu den Gefangenen herablassen; die Finger liegen in dem Führungslauf für das Seil.

Foto: Strücken, Lothar

Im Boden des Verlieses habe man Krüge und Knochen gefunden, auch Menschenknochen. Wie sie dahinkamen und was aus ihnen wurde, ist nicht bekannt: Reichmann vermutet, dass die Pietät vor den menschlichen Überresten größer war als das wissenschaftliche Interesse. Bis in die 50er Jahre gab es bei solchen Funden durchaus den Konflikt zwischen religiöser Ehrfurcht und Archäologie.

Sogar bei Ausgrabungen auf Römer-Gräberfeldern sei es eine Frage gewesen, ob es sich um Gebeine von Christenmenschen oder Heiden handelte, berichtet Reichmann. Und so vermutet er, dass die Knochen aus dem Burgfried still beigesetzt wurden.

Auch bei den armen Seelen, die im Mittelalter am Grunde des Burgfrieds gelandet sind, war die Bestattung eine heikle Frage: Hingerichtete wurden nicht in geweihter Erde beerdigt; nicht selten wurden sie einfach verscharrt - auf Schindangern, in verfluchter Erde, in der ansonsten totes, unbrauchbares Vieh entsorgt wurde.

Der Turm der Linner Burg: Er ist 36 Meter hoch; von der heutigen Plattform im Innern, von der aus Besucher den Blick in die Tiefe des Turmes werfen können, sind es 17 Meter bis zum Boden. Von dieser Höhe aus wurden Schwerverbrecher herabgelassen - ein Brett an einer Seilwinde deutet heute diese Praxis an. Die leichteren Fälle wurden in Zellen gesperrt, die in zwei Stockwerken über der Plattform eingerichtet waren. Bis 1794 wurde der Turm als Gefängnis genutzt; dann ordneten die Franzosen alles neu, und das "Amt Linn" hörte auf zu existieren.

Das mittelalterliche Rechtssystem war keineswegs nur finster, betont Reichmann. "Die frühe Neuzeit war meiner Einschätzung nach viel schlimmer." Zwar gab es grausame Strafen, doch war das Rechtssystem auch auf Ausgleich angelegt: "Mit heutigen Kategorien gesprochen: Es war eine Mischung aus Zivil- und Strafrecht. Damit hatten sich Elemente des germanischen Rechts erhalten." Bei den Germanen war etwa der Verlust eines Menschen durch Mord oder Totschlag vor allem ein Verlust an Wohlstand und so etwas wie Lebenspotenz, die der Täter zu ersetzen hatte. Ziel war es also nicht primär, die Tat moralisch zu bestrafen, sondern den Verlust auszugleichen.

Vor allem der Hexenwahn der frühen Neuzeit hat laut Reichmann dem Rechtssystem zugesetzt - das Recht musste vielfach gebeugt werden, damit Hexenprozesse massenhaft durchgeführt werden konnten. Nicht umsonst hat Friedrich Spee von Langenfeld in seiner berühmten Cautio Criminalis gegen die Hexenprozesse (erschienen 1631) auch innerjuristisch argumentiert und darauf hingewiesen, dass die Vorschriften zur Folter vielfach missachtet wurden - im Klartext: Es wurde viel länger gefoltert, als gesetzlich erlaubt war.

Reichmann berichtet auch von anderen Rechtsbeugungen. In Köln etwa hat der Kurfürst mehrfach Richter, die im Zusammenhang mit Hexenprozessen der Rechtsbeugung angeklagt waren, quasi ?rausgehauen: "Die haben einen Persilschein bekommen", sagt Reichmann. Dass also bestimmte Richter mit Rückendeckung der politischen Führung gerne dazu neigten, Wohlhabende der Hexerei zu überführen, um sie - waren sie erst einmal entrechtet - auszunehmen, war also auch den Zeitgenossen schon aufgefallen.

Welche armen (und sicher auch bösen) Teufel im Verlies der Burg Linn dahinschmachten mussten, ist leider wenig bekannt: Ein Feuer in der Burg hat 1586 das Gerichtsarchiv vernichtet. Überliefert sind lediglich eine Fülle von "Brüchten"-Akten aus dem 17. Jahrhundert; Akten über kleinere Delikte, die meist mit Geldstrafen beigelegt wurden. Dazu gehörten oft Wirtshausprügeleien, üble Nachrede, aber auch Delikte wie - Achtung, ekelig - das Urinieren von Gassenjungen in den öffentlichen Brunnen-Eimer oder das Randalieren am Stadttor, nachdem es bereits geschlossen war.

Ein Kandidat für das Verlies dürfte der Schwarze Schmied gewesen sein. Er war wegen Kirchendiebstahls verurteilt und 1740 hingerichtet worden. Er hatte Silber gestohlen, das die Linner Schützen zum Verzieren des wundertätigen Linner Kreuzes gestiftet hatten. Die Stiftung war ein Werk der Frömmigkeit und eine ökonomische Infrastrukturmaßnahme: Linn machte sich Hoffnung, Wallfahrtsort zu werden.

Der Turm jedenfalls muss viele Tränen und viel Verzweiflung gesehen haben. Die Gefangenen wurden vom Staat mehr schlecht als recht ernährt; wer Glück hatte, bekam von Verwandten etwas Ordentliches zu essen. Heute noch gibt es einen Lichtschacht am Turm, durch den die Unglücklichen im Innern mit Nahrung versorgt werden durften. Eine Rille im Gestein zeigt den Verlauf des Seils, an dem das Essen hinabgelassen wurde. Wer diese Kammer des Schreckens als verurteilter Verbrecher verließ, ging einem schlimmen Tod entgegen. Von da an kannte nur noch Gott Erbarmen.

(ila)
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