Krefeld Die Herbertzstraße - Inbegriff von Heimat

Krefeld · Die Häuserblocks galten als sozialer Brennpunkt. Für die Kinder, die in den 70er Jahren dort aufgewachsen sind, war es ein Ort des Zusammenhalts. Erinnerungen an eine Kindheit in den Häusern, die es nicht mehr gibt.

"Zusammenhalt" ist ein Wort, das oft fällt, wenn Horst Kratz von seiner Kindheit an der Herbertzstraße erzählt. Glücklich ist er dort gewesen. Vom schlechten Ruf der Siedlung wussten die Kinder damals in den 70er Jahren nichts, sagt er. "Erst viel später haben wir wahrgenommen, wie andere Leute uns gesehen haben. Aber ich bereue nicht eine Minute, die ich dort gelebt habe." Fast wäre der Name Herbertzstraße spurlos aus Krefelds Stadtplan verschwunden. Mit dem Abriss der berüchtigten Blocks und dem Verkauf der Grundstücke sollte es, so eine Forderung der Politik, einen neuen, unbelasteten Start für das Wohngebiet mit dem schlechten Ruf geben. Die Bewohner und Nachbarn wehrten sich - mit Erfolg. Für sie ist Herbertzstraße der Inbegriff von Heimat.

Horst Kratz erklärt das Phänomen Herbertzstraße gern so: "Wir auf der Herbertzstraße waren wie ein eigenes Volk. Wie bei Asterix - wir waren die Gallier, und außen rum war Rom." Ein Paradies für Kinder sei das Wohngebiet gewesen. "Vor dem Haus eine große Wiese, daneben der Spielplatz und der Bolzplatz, kein Autoverkehr. Was will man als Kind denn mehr." Bei schönem Wetter trafen sich die Familien auf der Wiese. "Einer legte einen Wasserschlauch raus, und schon waren alle da und hatten Spaß", erinnert sich Kratz.

Im Winter wurde der Wendehammer in eine Eisbahn verwandelt, Sandberge auf den unbebauten Flächen dienten als Crossstrecke für BMX-Räder. "Wir hatten sogar einen eigenen Fußballclub, den 1. FC H Oppum, Walter Koops war der erste Trainer." Im Jugendzentrum habe man für 20 Pfennig Cola kaufen können und im "Selba-Markt" gegenüber gab es "80 Pommes, 20 Ketchup" - also Pommes mit Ketchup zusammen für eine Mark. Horst Kratz, heute 45 Jahre alt, lächelt, wenn er von diesen Kindheitserinnerungen erzählt. "Die, die das nicht erlebt haben, können das nicht so empfinden, die können das nicht so fühlen, wie wir", meint er.

Und immer wieder das Wort Zusammenhalt. "Wenn der eine nichts hatte, hat der andere was gegeben, so einfach war das." Daran erinnert sich auch Peter Terkatz, der vier Jahre, von 1967 bis 1971, an der Herbertzstraße gelebt hat. "Vier intensive Jahre waren das", sagt er und grinst. "Wenn es zuhause nichts zu essen gab, hab ich mir bei der Nachbarin ein Butterbrot geholt. Das war ganz selbstverständlich." Das Gefühl, nichts zu haben, kannten alle.

"Wenn Kirmes war, haben wir alle unser Geld zusammengeschmissen, einer hatte 20 Pfennige, einer ne Mark. Und wenn das Geld alle war, sind wir nach Hause gegangen." Den Ruf, asozial zu sein, habe man bekommen, weil alle zusammenhielten. "Man musste sich durchkämpfen, aber man durfte nicht aus der Reihe tanzen", sagt Terkatz. Verrat wurde nicht geduldet. "Einmal hatten ein paar Jungs was angestellt und einer hat sie der Polizei verpfiffen. Den haben sie dann zwei Tage gejagt, dann hat er tüchtig Prügel gekriegt."

Andere Konflikte wurden im eigens installierten Boxring ausgefochten, auf freundschaftlicher Basis, betonen die Männer. Sein Vater, berichtet Kratz, habe im Kohlenkeller einen Beat-Club eingerichtet. Kinder hatten keinen Zutritt zu dieser Dorfdisco, bedauert er. Einen Spielautomaten gab es dort und eine Theke, installiert auf der Kohlenschütte. Die Mütter der Siedlung seien jeden Abend in einer Gruppe um die Blocks gezogen, um Neuigkeiten auszutauschen. "Wie ein Patrouillengang war das, oder wie die Herbertzstraßen-Bild-Zeitung. Jeder wusste von jedem Bescheid", sagt Kratz und lacht. Unverzichtbares modisches Accessoire für Frauen sei die Kittelschürze gewesen. "Das war 'das' Kleidungsstück."

Im Alter von 15 Jahren ist Horst Kratz aus der Herbertzstraße weggezogen. Doch er kehrte immer wieder zurück. "Als Jugendlicher bin ich jeden Tag nach der Schule hingefahren", erinnert er sich. "Auch heute wohnen noch viele Leute dort, die ich kenne." Der Abriss der Häuser hat ihn tief bewegt. In seiner Wohnung im Nordbezirk hat er sich einen kleinen Herbertzstraßen-Schrein, wie er es selber nennt, aufgebaut. "Mit einem Backstein von unserem Haus, den ich mir beim Abriss geholt habe und unserer alten Hausnummer." Als Erinnerung an eine glückliche Kindheit.

(RP)
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