Krefeld Die Abenteuer der Dame mit dem Goldhelm

Krefeld · Professor Renate Pirling hat vier Jahrzehnte lang die archäologischen Grabungen geleitet. Jetzt hat die frühere Direktorin des Museums Burg Linn ein Buch geschrieben, das sich bewusst an Laien richtet: "Gräber erzählen Geschichte". Der prächtig bebilderte Band über 6000 Gräber von Römern und Franken ist ein sehr persönliches Lesebuch für Freunde.

Dass die junge Frau einmal die archäologische Welt mit einem Sensationsfund in Aufregung versetzen würde, konnte Professor Kurt Bittel nicht ahnen. Und so riet er der zarten Studentin dringend ab von der Archäologie, die Männersache sei und Muskelkraft verlange. Doch Renate Pirling hatte in Bittels Vorlesung längst Feuer gefangen für die Zeugnisse der Vergangenheit, und sie war hartnäckig. Mit Fleiß und Klugheit hat sie ihren Lehrer an der Tübinger Universität überzeugt. Bittel kam zu Weltruhm durch seine Ausgrabungen in der Hauptstadt des Hethiterreiches, Boghazköj. Seine Studentin füllte 1962 die Schlagzeilen, als sie in Gellep das Grab des Fürsten Arpvar mit dem wunderbar erhaltenen Goldhelm hob.

Heute ist sie über 80 und sagt: "Ich war mit meinem Beruf keinen Moment unglücklich." Das erzählt die ehemalige Leiterin des Museums Burg Linn auch ihren Bekannten in Nürtingen. Dort, wo sie geboren und aufgewachsen ist, lebt sie seit ihrer Pensionierung. "Aber die Leute fragen immer, was hast du eigentlich 40 Jahre in Krefeld gemacht". Antwort gibt Pirling mit dem Buch "Gräber erzählen Geschichte. Krefeld-Gellep: 6000 Gräber von Römern und Franken", das im Buchhandel und im Linner Museumsshop erhältlich ist.

Das Buch war ein Herzensanliegen Renate Pirlings. Sie hat es als Privatdruck herausgegeben: "Ich wollte, dass es schön wird und sich nicht an Wissenschaftler richtet", sagt sie. Pirling beherrscht jenen leichten Erzählton, der gefangen nimmt und begeistert für die Rätsel, die die Vergangenheit sich mit profundem Wissen, fleißigem Quellenstudium und Sherlock-Kombinationstalent entlocken lassen. "Es gehört auch immer eine Portion Glück dazu - und ein gutes Team", sagt Pirling.

Im Buch stellt sie auf rund 80 Seiten die wichtigsten Etappen der Grabungen vor - vom Beginn unter ihrem Vorgänger Albert Steeger 1934 bis zu den bislang letzten Ausgrabungen in Gellep unter ihrem Nachfolger Christoph Reichmann. Seit sieben Jahren ruhen die Grabungen, das Gräberfeld hat eine Länge von fast 900 Kilometern erreicht. Die Funde aus 6361 Gräbern sind in mittlerweile acht Bänden wissenschaftlich publiziert. Doch alle Geheimnisse hat Gelduba längst noch nicht offenbar. "Da kommt noch was", ist sie sicher. Wenn neue Bauvorhaben weitere Grabungen notwendig machen, werde sich das beweisen.

Dass Gelduba das größte römisch-fränkische Gräberfeld Europas ist, ist Fakt. Aber welche Kostbarkeiten hier ans Tagleslicht kamen und wie abenteuerlich Historie ist, zeigt das Buch. Es sind nicht vor allem die Scherben und Fragmente abgebildet, die Wissenschaftler hyperventilieren lassen, weil sie fehlende Puzzleteile im Geschichtsbild sind. Oft werden wundervolle Kostbarkeiten des frühzeitlichen Alltags präsentiert: edler Goldschmuck, dessen Eleganz die Jahrtausende überdauert hat, ein Schwertknauf aus Gold, prächtiger Sattelschmuck, feingeschliffene Gläser und goldene Beschläge, an denen man sich nicht sattsehen mag. Und natürlich der Goldhelm.

Die Entdeckung des Grabes 1782 markiert das spektakulärste archäologische Abenteuer auf Gelduba. Und es kam aus heiterem Himmel. Die Grabungen waren für den Sommer 1962 bereits abgeschlossen, aber die Verträge für die studentischen Hilfskräfte liefen noch einige Tage. So ließ Pirling in 20 Metern Entfernung des bearbeiteten Areals einen Suchschnitt machen - vielleicht wäre da das Ende des Gräberfelds. Doch der Trupp stieß auf eine 4 mal 5 Meter große Grube. In 1,85 Meter tiefe steckte senkrecht ein stangenartiges Eisen. Am nächsten tag, es war der 26. September, war ein 1,26 Meter langer Bratspieß frei gelegt. Ein Bronzekessel folgte, und nun war klar: Hier war ein Grab. Am Abend kam ein "hässlicher rostiger Klumpen", ans Licht - die Archäologen erkannten, dass es sich um einen Helm handelte. Es war also ein Männergrab. "Vom Skelett war nichts übrig. Das liegt am Boden in Gellep, Knochen erhalten sich dort nicht." Deshalb weiß niemand, wie der Träger des Helmes ausgesehen hat, wie groß er war, in welchem Alter er gestorben ist.

Für die Archäologin waren es aufregende Tage. Ein goldener Schwertknauf, eine Münze fränkischer Prägung mit dem Bild des Kaisers Anastasius I. (491-518), die Aufschluss über das Alter des Grabes gab, und ein goldener Ring mit einer Gemme, die vermutlich den Flötistenwettstreit zwischen Apoll und dem Silen Marsyas darstellt, waren echte Schätze. Dabei stellte sich erst später mit der Restaurierung heraus, dass der Rostklumpen ein goldener Spangenhelm eines Fürsten war. Eine Inschrift auf einem Bronzekännchen ließ sich entziffern als "Arpvar erat elex vundique pre" - wissenschaftlich ergänzt als Arpvar erat felix undique praecelsus: Arpvar war glücklich und überall hoch angesehen.

An den spannenden Tagen und schlaflosen Nächten lässt das Buch teilhaben. Aber auch an jenen ermüdenden Phasen mit Regen und Kälte, wo der Boden beharrlich über die Vergangenheit schweigt. Die größte Enttäuschung erlebte die Archäologin zwei Jahre später. Dort signalisierte die Beschaffenheit des Bodens einen Fund, der größer sein würde als Arpvars Grab: fünf Kammergräber, das größte fast dreimal so groß wie das mit dem Goldhelm. Ein goldener Beschlag aus dem späten 6., frühen 7. Jahrhundert nährte hohe Erwartungen. Mit einer Feuerzangenbowle wurde die schneidende Kälte der Nachtwache überwunden - doch nach fünf anstrengenden Tagen war klar: Grabräuber waren den Linnern um Jahrhunderte zuvorgekommen. Zu den kläglichen Resten, die sie übriggelassen hatten, gehörten Eisenteile, die sich später als Beschläge eines zweirädrigen Wagens herausstellten. "Damals war es das erste merowingische Grab in Mitteleuropa, das einen Wagen enthielt. Mittlerweile gibt es vier weitere"; erzählt Pirling.

Und sie verschweigt auch nicht das denkbar größte Missgeschick, das der Geschichte passieren kann: Ein aus mehr als 1000 Eisenplättchen bestehender Panzer, den man völlig hätte rekonstruieren können, ging zur fachkundigen Restaurierung ans Landesmuseum Bonn. Beim Transport wurde er fallengelassen: Die Lamellenblätter brachen zigfach und gerieten so durcheinander, dass eine Ordnung nicht mehr möglich war. Pirling: "Das ist umso bedauerlicher, als derartige Panzer, die zentral-asiatischen Ursprungs sind, in Europa zu den äußerst seltenen Funden zählen. Im fränkischen Gebiet ist der von uns entdeckte der einzige."

"Gräber erzählen Geschichte" gibt es für 24,80 Euro im Museumsshop Linn und im Buchhandel

(RP)
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