Krefeld Der Wegbereiter

Krefeld · Bei Andreas Blinzler wohnen viele Menschen, die auf der letzten Etappe ihres Lebenswegs sind. Er leitet das Pflegeheim Gerhard-Tersteegen-Haus - mit immer neuen Ideen. Auch Blinzlers eigener Karriereweg ist ein ungewöhnlicher.

 Andreas Blinzler im Flur zum Verwaltungstrakt des Gerhard-Tersteegen-Hauses. Dort sind Fotos aller Mitarbeiter ausgehängt.

Andreas Blinzler im Flur zum Verwaltungstrakt des Gerhard-Tersteegen-Hauses. Dort sind Fotos aller Mitarbeiter ausgehängt.

Foto: Thomas Lammertz

Natürlich ist das Krefelder Gerhard-Tersteegen-Haus ein Pflegeheim, und natürlich leben auch hier Menschen, die manchmal mit ihrer Situation hadern, die unglücklich sind. Und dennoch fühlt, wer das Haus betritt, einen besonderen Geist. Andreas Blinzler ist einer der Gründe, warum das Heim am Hauptbahnhof ein besonderes ist, warum es immer wieder über Krefeld hinaus für Schlagzeilen sorgt. Blinzler leitet das Tersteegen-Haus und hat sich in den vergangenen Jahren immer neue Aktionen für seine Bewohner ausgedacht. Sein unbedingtes Ziel: Krankenhausatmosphäre und emotionale Sterilität im Haus vermeiden. Blinzler hat seine Senioren schon zu Fotomodels gemacht, er ist mit schwerstpflegebedürftigen Bewohnern in den Urlaub gefahren - und er hat einen roten VW-Käfer für die Senioren in den Garten gefahren, obwohl die Einfahrt dafür viel zu schmal war. Geschichten über Geschichten kann er erzählen. Der Reihe nach.

1964 wird Andreas Blinzler in Aachen geboren, interessiert sich früh für soziale Tätigkeiten, gestaltet Kindergottesdienste mit, macht seinen Abschluss an der Fachoberschule für Sozialwesen, studiert in Gladbach mit dem Abschluss Diplom-Sozialpädagoge. Er arbeitet dann im Jugendheim Aldenhoven/Jülich. Es ist die Zeit, als dort viele Dörfer wegen der Braunkohle weggebaggert werden, Menschen ziehen um, verlieren ihr Land. Blinzler sucht nach beruflichen Alternativen, zumal die Arbeit im Jugendheim auch bedeutet, am Wochenende bis 23 Uhr die obligatorischen Discos zu betreuen. "In die Altenhilfe wolltest Du immer rein", erinnert er sich. 1989 beginnt er in der Sozialbetreuung der Senioren. Das ist die Zeit, als Blinzler mit seinen Kollegen Dinge erfindet, die mit dem, was man heute für einen Seniorenheimalltag hält, nicht viel gemein haben. "Wir haben Kunstausstellungen mit den Senioren gemacht, sind mit ihnen in den Urlaub gefahren, bis nach Mallorca. Der Höhepunkt war eine Urlaubsreise mit 24 Schwerstpflegebedürftigen in das Emsland für eine Woche - in dieser Zeit haben wir das Altenheim von Grund auf renoviert." Das war die Zeit, in der er "Blut geleckt" habe, sagt der heute 51-Jährige, der verheiratet ist und zwei Söhne hat, Alex (16) und Moritz (20).

Blinzler merkt, dass er gern selbst ein Haus leiten und ihm diesen besonderen Spirit verleihen würde. Er macht eine einjährige Ausbildung am Titisee im Schwarzwald ("eine Super-Zeit"), wechselt nach einer Zwischenetappe zum Dreikönigenhaus des Neukirchener Erziehungsvereins im Kronprinzenviertel. "Am Anfang gab es dort die Befürchtung, dass das Haus zu alt ist, dass man sich dort nicht wohlfühlen kann." Er habe aber schnell gemerkt, dass das alte Haus "wie eine Perle in der Muschel" ist. Blinzlers Sofortmaßnahme: "Wir haben das Haus bunt angestrichen, das Alte wieder schick gemacht." Gelb statt weiß an den Wänden. Parallel erfindet er mit seinem Team das Konzept, Dinge in die Flure und Räume zu stellen, die den Senioren von früher her vertraut sind: alte Grammophone, alte Waschtrommeln, Musiktruhen. Den einzelnen Fluren gibt man Straßennamen: "Sonnenblumenweg", "Strandpromenade". Blinzler sagt im Rückblick: "Wir sind immer schöner geworden, es kamen immer mehr Antiquitäten." Verblüffend sei besonders der Effekt auf die Senioren gewesen: "Sie setzten sich auf einmal wieder mit dem, was sie umgibt, auseinander, es wurde kontrovers diskutiert, es war Leben im Haus." Tiere - Katzen, Hunde, Kaninchen - konnten die Bewohner mit ins Heim nehmen. "Wir haben sie sogar in der Pflege eingesetzt. Einem Bewohner, der sich immer gegen Pflege sperrte, setzte eine Mitarbeiterin sein Kaninchen auf den Schoß. Während sie ihn wusch, streichelte er das Tier." Und als die Katze einer Bewohnerin verendet, beerdigen sie die Bewohner im Garten. Mit solchen Maßnahmen schafft es Blinzler in die Schlagzeilen, über Deutschland hinaus wird über das Haus berichtet.

2009 wechselt Blinzler ins zweite Seniorenheim des Neukirchener Erziehungsvereins, in das Gerhard-Tersteegen-Haus hinter dem Krefelder Hauptbahnhof, am Platz der Wiedervereinigung. Die Situation, die er dort vorfindet, ist ähnlich: Das Haus hat wenig Glanz. Blinzler hat die Idee, einen professionellen Fotografen Bilder von seinen Senioren schießen zu lassen. Mit den Porträts dekoriert er die Wände. Er führt eine Hauszeitung ein, für die die Bewohner schreiben können. Eine eigene Heim-Bloggerin hat das Gerhard-Tersteegen-Haus, und eine Bewohnerin, Frau Schaufler, ist Krefeld-weit berühmt für ihre Strickfertigkeiten - die Erlöse gehen an karitative Einrichtungen. Auch mit diesem Haus sorgt Blinzler für Schlagzeilen: 2012 wird das Tersteegen-Haus von der Focus Redaktion zu einem der Top Heime in Deutschland gewählt.

Der christliche Glaube spielt im Heim eine große Rolle. Noch ist die Konfessionszugehörigkeit zu einer christlichen Kirche sogar Arbeitsvoraussetzung für den, der im Tersteegen-Haus arbeiten will. Blinzler erklärt: "Wenn hier einer der Bewohner beten will, dann muss mein Kollege das Gebet kennen. Für Senioren spielt der Glauben eine Rolle, sie suchen sich dieses Heim bewusst aus." So gibt es im Gerhard-Tersteegen-Haus eine eigene Kapelle mit Altar und Kerzen, es gibt katholische und evangelische Gottesdienste und Abschiedsbereiche, wenn Senioren sterben. Doch Blinzler denkt über die Zukunft nach. "Wir bekommen immer mehr Praktikanten und Bewohner, die muslimischen Glaubens sind. Im Moment machen zwei Flüchtlinge bei uns ein Praktikum. Ich bin der Meinung: Ein evangelisches Haus muss sich öffnen. Vielleicht können wir irgendwann auch Menschen anderen Glaubens beschäftigen." 2014 beispielsweise sei ein türkischer Bewohner gestorben, 30 Angehörige seien ins Heim gekommen, um zu trauern. "Das haben wir hier vorher noch nie erlebt." Die Frage, welchen Glaubens die Mitarbeiter sind, sei für ihn nicht die Allergrößte. "Wichtig aber ist, dass die Werte dieses Heims erhalten bleiben."

Wie geht man damit um, wenn man viele Menschen auf ihrem "letzten Lebensweg" begleitet? Sind sich die Senioren dieser Tatsache bewusst? Blinzler sagt: "Manche so, manche so." Auf der Wachkomastation gebe es Fälle, wo Menschen schon nach wenigen Tagen sterben. "Da ist es oft ein ganz kurzer Weg." Es gebe aber auch Senioren, die im Heim erst so richtig aufblühen. "Die kommen wieder unter die Leute, die fühlen sich wohl." Blinzler hat neue Ideen: Er will es den Bewohnern gerne möglich machen, auf dem Bauernhof zu leben. Der Neukirchener Erziehungsverein hat viele Partnerbauernhöfe in der Region, wo Jugendliche betreut werden. Dort gebe es zunehmend mehr freie Plätze. Blinzler kann sich vorstellen, dass stattdessen auch Senioren einziehen könnten.

Der Heimleiter betont, dass die anderen Heime in Krefeld sehr gute Arbeit leisten, dass das Tersteegen-Haus kein Sonderfall sei: Wir haben viele gute Häuser in Krefeld. Manche arbeiten vielleicht eher im Verborgenen." Er sei aber so stolz auf die Sachen, die im Heim laufen, dass er die Krefelder davon wissen lassen will.

Frage zum Ende des Gesprächs: Wie werden Sie eigentlich alt, Herr Blinzler?

Blinzler zögert. "Mein Traum wäre es, als alter Herr in einer Blockhütte in Kanada zu leben, Kanu zu fahren und zu wandern und irgendwann die Augen zuzumachen."

Und wer soll Sie dort pflegen?

Blinzler denkt nach und sagt: "Na gut, ich werde wohl alt wie jeder andere auch."

Man will Blinzler wünschen, dass er dereinst in seinem Heim lebt, das seine Ideen weiterführt. Und wer weiß: Vielleicht gibt es ja mal eine Urlaubsreise nach Kanada - mit dem ganzen Heim im Kanu.

(RP)
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