Krefeld Der Untergang des Hauses Lear

Krefeld · Shakespeares Königsdrama in Krefeld: Eine packende Geschichte des Zerfalls.

 Vom Wahn gezeichneter König: Joachim Henschke als Lear.

Vom Wahn gezeichneter König: Joachim Henschke als Lear.

Foto: M. Stutte

Der König ist tot, und es gibt niemanden, der das Vivat auf den nächsten Regenten ausrufen könnte. Der alte Lear liegt in zerfledderter Unterwäsche auf der Erde zwischen den Leichen seiner Töchter — verendet wie ein Bettelmann. Reich, Ehre, Familie: Alles ist verwirkt. Als Geschichte eines rasanten Untergangs hat Schauspieldirektor Matthias Gehrt William Shakespeares düsterstes Drama fürs Krefelder Theater in Szene gesetzt.

Das vermutlich 1605 uraufgeführte Werk nach der Legende des vorrömischen Königs Leir, der sein Reich an seine Töchter verteilt und die Jüngste enterbt, weil sie ihm die öffentliche Liebesbekundung schuldig bleibt, ist ein dicker Schinken, in dem zentnerweise politischer, religiöser und philosophischer Nährstoff steckt. Gehrt schneidet sich zwei Themen wie Filets heraus: die Situation der Familie und das Thema Alter.

Anfangs sind alle adrett in Anzug und Schlips, die Leartöchter tragen cocktailtaugliche Kleider (Kostüme Sibylle Gädeke). Mit dem Verfall zivilisatorischer Werte verschwinden Kleidungsstücke, verdrecken und zerlumpen — eine fast unmerkliche Begleitung zum genialen Bühnenbild von Gabriele Trinczek. Sie hat ein sparsam möbliertes Shakespeare-Tableau in leichte Schräge gestellt. Der Boden ist mit Erde aufgefüllt und mit Papier bedeckt. Die makellos weiße Fläche entspricht dem Idyll, in dem sich der Machtkönig (Joachim Henschke) und sein Gefolge wähnen. Auf der dünnen Schicht hinterlässt jeder Schritt Spuren, bedeutet jede Aktion Verletzung. Die heile Welt wird bis zu Lears Vertreibung fast vollständig in die Erde getrampelt sein.

Die politischen Stränge konzentriert Gehrt auf Tonbandeinspielungen mit Schlachtengetümmel. Deshalb hängt die Logik der Verwandlung vom selbstherrlichen Machtmenschen zum seelischen und körperlichen Wrack an der Figur des alten Königs. Henschke hat als Lear den Autopiloten eingeschaltet: Umnachtungsflug in den Wahn. Mit starrem Blick zeigt er die Persönlichkeitsveränderung. In flammender Angst flüstert er sein Mantra "Bitte, lass mich nicht wahnsinnig werden". Das Flehen geht ins Leere. Mit einem Gestrüppkranz auf dem Kopf steht er da — von Gott und Welt verlassen. Der Narr, sein letzter Vertrauter (Helen Wendt), bringt sein Dilemma auf den Punkt: "Du hättest nicht alt werden dürfen, ehe du weise geworden bist." In der Angst vor dem Selbstverlust erst empfindet er Empathie. Es sind die Sekundenblitze der Menschlichkeit, die im Krefelder "Lear" berühren. Der geblendete Gloster (Bruno Winzen) und sein Sohn (Ronny Tomiska), der sich als Fremder ausgibt, um den blinden Vater zu retten, lassen einen Moment lang an die Kraft der Liebe glauben. Doch am Ende siegt auch hier der Tod.

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(RP)
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