Krefeld Der Prophetenschüler

Krefeld · Pfarrer Manfred Bautz hat als einer der letzten Studenten bei Karl Barth in Basel studiert und damit einen der größten Theologen des 20. Jahrhunderts aus der Nähe erlebt. Wie war es, einer Legende zu begegnen?

 Pfarrer Manfred Bautz vor der Alten Kirche, wo er 15 Jahre lang seinen Dienst versah. Bautz studierte 1962/63 bei Karl Barth in Basel und sagt heute: „Er ist für mich theologisch unvergleichlich.“

Pfarrer Manfred Bautz vor der Alten Kirche, wo er 15 Jahre lang seinen Dienst versah. Bautz studierte 1962/63 bei Karl Barth in Basel und sagt heute: „Er ist für mich theologisch unvergleichlich.“

Foto: Ja/Jochmann, Dirk (dj)

Mit Pfarrer Manfred Bautz zu reden ist nicht ganz einfach: Er ist ein Infizierter, ein leidenschaftlicher Theologe, der im Gespräch schnell alle Segel seines Denkens setzt. Immer volle Kraft voraus. Infiziert wurde der 79-Jährige, der 15 Jahre lang Pfarrdienst an der Alten Kirche verrichtete, von einem der größten Theologen des 20. Jahrhunderts, einem Denker mit dem Rang eines Propheten für den Protestantismus: Karl Barth. Bautz erlebte ihn als Student in Basel, wo Barth auch nach seiner Emeritierung als Professor Seminare abhielt. Um die Wucht einzuschätzen, mit der der junge Barth auf den deutschen Protestantismus traf, reicht ein biographisches Detail: Als 1919 sein Römerbrief-Kommentar als Buch erschien, wurde Barth als 33-jähriger Pfarrer aus der Schweizer Provinz zum Theologie-Professor nach Göttingen berufen – ohne Doktortitel und Habilitation. Wie war es, bei einer Legende zu studieren?

Die evangelische Kirche hat das Jahr 2019 zum Barth-Gedenkjahr ausgerufen: Vor 100 Jahren erschien der „Römerbrief“-Kommentar, der Barth berühmt machte. Manfred Bautz kam als Student auf Empfehlung eines Professors der Kirchlichen Hochschule in Wuppertal nach Basel und gehörte zu den letzten Schülern Barths, der 1968 starb.

Bautz stammt aus einem Dorf im Hunsrück und wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Sein Vater starb 1944 im Krieg, als er fünf Jahre alt war. Über seinen Pfarrer kam Bautz zur Theologie. Diese Bildungskarriere war noch etwas Besonderes. Allein Bautz’ Schulweg zum Gymnasium: fünf Kilometer mit dem Rad, dann 25 Kilometer mit der Bahn.

Basel und Barth waren die große weite Welt. Die „Sozietät“, also das Seminar mit dem berühmten Professor, fand in einer Gaststätte an der Straße „Auf dem Bruderholz“ statt. „Barth“, erinnert sich Bautz, „kam immer mit der Tram“, anders als der Philosoph Karl Jaspers, der stets per Taxi unterwegs war.

In den Seminaren wurden Schriften Barths thematisiert; Bautz schwört Stein und Bein, dass Barth keinen Kult um seine Person betrieb: „Barth hat einmal gesagt: Gott hat mich mit Barthianern gestraft. Er wollte nicht, dass man seine Theologie nachbetet, sondern über sie ins Nachdenken kommt.“

Was war so bahnbrechend am Römerbrief-Kommentar? Barth hat 1919 mit dem vorherrschenden Kultur-Protestantismus abgerechnet: Das Christentum wurde demnach als kulturprägende Kraft gesehen, es sollte Werte und Regeln der Gesellschaft, auch: die Ideologie der Herrschenden stützen. Barth protestierte gegen diese Instrumentalisierung des Evangeliums, pochte auf den unendlichen Abstand zwischen Gott und Mensch und darauf, dass die Offenbarung Gottes senkrecht von oben in unser Leben kracht und nie Mittel zum Zweck des Menschen sein kann.

Prägend für Barth war der Erste Weltkrieg. Er war entsetzt darüber, wie deutsche Professoren, darunter auch einige seiner theologischen Lehrer, den Krieg als göttliche Mission feierten. Er war auch entsetzt, dass nicht mal die deutsche Sozialdemokratie restlos immun war gegen diesen Wahn. Gerade diese Enttäuschung war groß: Barth sympathisierte als junger Pfarrer im schweizerischen Safenwill mit dem Sozialismus und ging als „roter Pfarrer“ in die Geschichte der Stadt ein.

 Barth sei „ein ganz verbindlicher Mensch“ gewesen, berichtet Bautz. Es habe keine verletzenden Streitereien gegeben; gleichwohl sei Barth „nicht nett“ und klar in der Sache gewesen. „Von Barth habe ich gelernt, zwischen Streit um die Sache und der Person zu unterscheiden“, sagt Bautz.

Barths Unbeirrbarkeit hatte auch epochale Bezüge. Als er als Professor an der Universität in Bonn einen Amtseid auf Hitler ablegen sollte, pochte er auf den Zusatz „soweit ich es als evangelischer Christ verantworten kann“. Barth wurde 1934 entlassen. Der Professor ohne Amt wurde in der Folge zum Wegbereiter der Bekennenden Kirche, die sich gegen die Vereinnahmung durch die Nazis wehrte und in der Barmer Theologischen Erklärung 1934 ein Manifest gegen die ideologische Unterwanderung der Kirche formulierte. Barths Position wurde in Deutschland immer schwieriger, er ging zurück in seine Geburtsstadt Basel.

Barth blieb ein Provokateur. Auch nach dem Krieg mischte er sich in die deutschen Belange ein, sprach sich etwa gegen die Wiederbewaffung Deutschlands aus. Ungewöhnlich ist auch eine Facette in Barths Privatleben: Er, der verheiratet war und mit seiner Frau Nelly fünf Kinder hatte, hatte eine Liebesbeziehung zu seiner Schülerin Charlotte von Kirschbaum; sie wurde seine wichtigste Mitarbeiterin und lebte zeitweilig mit den Eheleuten Barth unter einem Dach. Ob diese Beziehung auch eine sexuelle Dimension hatte, ist unklar; Barth hat angedeutet, dass dem nicht so war. Bautz reagiert unwirsch, als die Sprache darauf kommt. „Alle Welt interessiert nur, ob die beiden miteinander im Bett waren“, sagt er, „was weiß denn ich. Zu dieser Dreiecksbeziehung gehörte auch, dass Nelly und Karl Charlotte im Pflegeheim besucht haben, als sie an Demenz erkrankte.“ Nelly hat übrigens Karl und Charlotte überlebt und zugelassen, dass alle drei in einer Familiengruft bestattet wurden.

Und heute? Barths Theologie ist nicht vergessen, aber verblasst. Wohl auch deshalb, weil seine kompromisslose Senkrecht-Lehre von der Offenbarung samt Ablehnung aller Religionen als menschengemacht ungelöste Paradoxien stiftete. Kritik daran kam von Philosophen und jüngeren Theologen. So ging die Zeit über Barth hinweg. Seine historische Stunde schlug im Wahnsinn der Weltkriege. Der Theologe Heinz Zahrnt hat das einmal so zum Ausdruck gebracht: Barths Römerbrief sei in jener ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der energische Ruf „gegen alle Versuchungen gewesen, neben Jesus Christus auch noch andere Offenbarungsquellen anzuerkennen, als da waren Staat, Volk, Führer, Blut und Boden, Rasse und Nation“.

Bautz erfüllt es mit Trauer, wie Barth in den Hintergrund gerückt ist. „Die Barthsche Theologie hat ihre Zukunft noch vor sich“, sagt er. Die Kirche betont demnach auch heute wieder stark ihre Rolle für die Gesellschaft als Hüterin bürgerlicher und demokratischer Werte. „Alles nicht schlecht“, sagt Bautz, „aber das ist nicht das Eigentliche.“ Das Eigentliche sei etwas anderes: „Der Mensch ist kein Gottsucher, er wird von Gott gefunden; unsere Existenz hat Antwortcharakter; ich muss nichts aus mir machen, ich gelte von Anfang an.“ Barth, so bekräftigt Bautz, „ist für mich theologisch unvergleichlich.“

Noch etwas anderes teilt Bautz mit Barth: die Liebe zu Mozart. Nelly Sachs, so berichtet Bautz, habe ihrem Mann stets morgens eine Platte mit Mozart aufgelegt. So auch an seinem Todestag. „Er ist mit Mozart gestorben“, sagt Bautz und erinnert an eine weitere Anekdote: Karl Barth habe einmal gesagt, wenn er in den Himmel komme, werde er sich als erstes nach Mozart erkundigen. Man darf glauben: Gott wird’s mit Wohlgefallen aufgenommen haben.

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