Krefeld Das Rezept des Isidor Hirschfelder

Krefeld · Franz-Joseph Greve hat der Krefelder Synagoge anlässlich ihres fünfjährigen Bestehens ein Rezept des jüdischen Arztes Isidor Hirschfelder gestiftet. Das kleine Papier ist ein Dokument aus einer bewegenden Familiengeschichte.

Krefeld: Das Rezept des Isidor Hirschfelder
Foto: Stadtarchiv

Ein Rezept — eigentlich ein Alltagsding. Dieses Rezept aber ist mit Geschichte getränkt und erzählt auf seine Weise Unfassbares. Es wurde jetzt über Vermittlung von Franz-Joseph Greve der jüdischen Gemeinde anlässlich des fünfjährigen Bestehens der Synagoge vermacht. Dahinter verbirgt sich auch die Geschichte zweier Krefelder Familien, die durch die Zeitläufte miteinander verbunden wurden.

Krefeld: Das Rezept des Isidor Hirschfelder
Foto: Lammertz, Thomas

Rückblick: Am 7. September 1931 schreibt der Arzt Isidor Hirschfelder ein Rezept für ein dreijähriges Mädchen namens Britta Lion. Hirschfelder ist in Krefeld ein geachteter Mann. Er war wesentlich mitbeteiligt am Aufbau der ersten Mütterberatungsstelle sowie des ersten Säuglingsheims der Stadt. Im Ersten Weltkrieg kämpfte er tapfer für Deutschland und wurde dafür vom Kaiser mit dem Eisernen Kreuz Erster Klasse geehrt. Wieder zu Hause, setzte er sich vor allem für das Säuglingsheim ein, arbeitete unentgeltlich, sammelte Geld in der jüdischen Gemeinde Krefelds.

Krefeld: Das Rezept des Isidor Hirschfelder
Foto: Lammertz, Thomas

Das Rezept zeugt von guten Tagen. Zehn Jahre später, am 29. Oktober 1941, erschießt sich Hirschfelder in seiner Wohnung am Westwall. Sein Leichnam wird am Schreibtisch gefunden, auf dem Tisch liegt das Eiserne Kreuz. Er hat Terror und Judenhass der Nazis nicht mehr ausgehalten.
Zu diesem Zeitpunkt ist die Familie Lion schon in den USA; ausgewandert noch vor dem ersten offen mörderischen Hassausbruch in der Reichspogromnacht am 9. November 1938, heute vor 75 Jahren. Auch die jüdische Familie Lion war zuvor geachtet: Brittas Vater Curt war Unternehmer, Mutter Elsa eine geborene Bayerthal. Ihr Vater Moritz hatte nach dem I. Weltkrieg entschlossen die Ernährung der hungernden Krefelder Bürgerschaft sichergestellt, saß nun im Stadtrat und bekleidete zahlreiche Ehrenämter.

Die Lions besaßen auf der Hochstraße ein Bekleidungsgeschäft. Brittas Eltern hatten früh erkannt, dass die Lage für Juden in Deutschland immer schlimmer werden würde. 1935 verkauften sie schließlich ihr Geschäft an den Kaufmann Joseph Greve und wanderten zwei Jahre später nach Amerika aus.

Wie Curt Lion war auch Joseph Greve Textilkaufmann. Er war gläubig, ein Mann der katholischen Zentrumspartei und kannte den Hintergrund, warum Curt Lion sein Geschäft verkaufen wollte; beide Männer sprachen offen darüber. "Mein Vater wollte, dass er den Juden auch weiterhin in die Augen schauen konnte", sagt Greve. Der Verkauf wurde schließlich zu Bedingungen und in einer Atmosphäre besiegelt, die die Familie Lion immer als fair, anständig und honorig bezeichnet hat — bis heute.

Zeitsprung in die 80er Jahre: Eines Tages stand im Geschäft der Greves eine Frau und bat, den Inhaber sprechen zu dürfen. Es war eben jene Britta Lion, die als Mädchen das Hirschfelder-Rezept erhalten hatte und nun auf den Spuren ihrer Kindheit war. "Sie hatte überraschend viele Erinnerungen an Krefeld, obwohl sie doch noch relativ klein war, als sie die Stadt verließ", sagt Greve heute. Aus dem ersten Treffen entwickelte sich rasch freundschaftliche Verbundenheit.
Von Britta Lion erfuhr Greve irgendwann, dass sie jenes Hirschfelder-Rezept aufbewahrte — Erinnerung an unbeschwerte Kindertage. Seitdem er das wusste, bat er Britta hartnäckig darum, dieses Rezept wieder nach Krefeld zu geben. Es war zwischen den beiden so eine Art "running gag": "Ich hab bei jedem Telefonat gesagt: Britta, was ist mit dem Rezept. Irgendwann bist du tot, und dann wandert es in den Müll."

Nun hat sie reagiert und das Rezept der Familie Greve übersandt. Britta Lion schrieb dazu, sie wolle damit ein Zeichen für Frieden und Menschenrechte setzen und die in Krefeld unterstützen, die sich diesen Werten verpflichtet fühlten. Greve wiederum vermachte das Dokument der Synagoge.
Die jüdische Gemeinde bewahrt es jetzt auf: Erinnerung an eine Zeit, in der ein geachteter Arzt einfach nur ein geachteter Arzt war, der einem kleinen Mädchen wie so vielen Krefelder Kindern Linderung verschaffte. Es bleibt unfassbar, wie rasch und gründlich der Nazi-Staat für Hirschfelder und Britta und ihre Familie und so viele zum mörderischen Feind wurde. Heute erinnern in Krefeld eine Straße und ein Platz an Isidor Hirschfelder. Und nun auch sein Rezept in der Synagoge.

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