Afghanische Fußballnationalspielerin aus Krefeld „Wir sind erschüttert und traurig“

Krefeld · Die Krefelderin Maryam Qasemi spielt in der afghanischen Fußballnationalmannschaft. Im Gespräch mit unserer Redaktion spricht sie über die Lage in Afghanistan.

„Die  Mehrheit des afghanischen Volkes möchte so leben wie hier, nämlich in Freiheit, sie möchte, dass Mädchen die Schule besuchen können; die Frauen möchten selbstbestimmt leben, auf die Unis gehen“: Maryam Qasemi.

„Die  Mehrheit des afghanischen Volkes möchte so leben wie hier, nämlich in Freiheit, sie möchte, dass Mädchen die Schule besuchen können; die Frauen möchten selbstbestimmt leben, auf die Unis gehen“: Maryam Qasemi.

Foto: Lammertz, Thomas (lamm)

Wie geht es Ihnen?

Qasemi Ich bin traurig und erschüttert über die Vorgänge in Afghanistan. Und wir haben Schuldgefühle, dass wir hier in Sicherheit sind.

 Fußballbegeistert ist Maryam Qasemi, seit sie zehn Jahre alt ist; mit 15 wurde sie in den Kader der afghanischen Frauennationalmannschaft berufen.

Fußballbegeistert ist Maryam Qasemi, seit sie zehn Jahre alt ist; mit 15 wurde sie in den Kader der afghanischen Frauennationalmannschaft berufen.

Foto: Schule

Sie sind in Deutschland geboren. Haben Sie Kontakte nach Afghanistan?

 Maryam Qasemi steht fassungslos vor diesem Eintrag auf der Internetseite des Auswärtigen Amtes: Die Aufforderung, aus Afghanistan in Deutschland anzurufen, um sich für eine Evakuierung zu melden, geht ihr zufolge für viele Menschen dort ins Leere, weil es  nur schlechte Internet- und Handy -Netze in Afghanistan gibt.

Maryam Qasemi steht fassungslos vor diesem Eintrag auf der Internetseite des Auswärtigen Amtes: Die Aufforderung, aus Afghanistan in Deutschland anzurufen, um sich für eine Evakuierung zu melden, geht ihr zufolge für viele Menschen dort ins Leere, weil es  nur schlechte Internet- und Handy -Netze in Afghanistan gibt.

Foto: Lammertz, Thomas (lamm)

Qasemi Die Familie meiner Mutter lebt dort: Tanten, Oma, Onkel, Cousinen und Cousins, auch Freunde. Wir haben sie regelmäßig in Abständen von zwei bis drei Jahren besucht, insgesamt  bestimmt fünf-, sechsmal, zuletzt vor drei Jahren.

Und wie geht es Ihren Verwandten dort?

Qasemi Auch sie sind erschüttert und traurig, dass sich die Geschichte wiederholt und die Taliban erneut die Herrschaft über das Land übernommen haben.

Die Taliban versuchen den Eindruck zu vermitteln, dass sie nun eine gemäßigtere Herrschaft ausüben wollen. Wie sehen Sie und Ihre Verwandten das?

Qasemi Auch wenn die Taliban sich noch zurückhalten mögen, das wird sich ändern. Das war  bei der ersten Machtübernahme ähnlich. Erst ein bisschen Friede, Freude Eierkuchen, dann haben sie ihr wahres Gesicht gezeigt. Jetzt, wo die Luftbrücken geschlossen sind, versuchen sie alles, um zu verhindern, dass die Menschen  außer Landes kommen. Und ob die Anschläge am Flughafen wirklich auf das Konto des IS gehen oder mit Billigung der Taliban vollbracht wurden oder von den Taliban selbst, um die Leute einzuschüchtern, das kann niemand sagen.

Nach dem schnellen Siegeszug der Taliban wurde die Frage aufgeworfen, ob die  Bevölkerung ein Lebensmodell mit Demokratie, Freiheit und Menschenrechten überhaupt unterstützt oder ob sie nicht in großen Teilen mit den Taliban sympathisiert. Wie sehen Sie das?

Qasemi Die  Mehrheit möchte so leben wie hier, nämlich in Freiheit, sie möchte, dass Mädchen die Schule besuchen können; die Frauen möchten selbstbestimmt leben, auf die Unis gehen. Das afghanische Robotic-Team, das in internationalen Wettbewerben Roboter gebaut hat, bestand aus Frauen. Die Mitglieder dieses Teams gehörten zu den ersten, die gerettet wurden, genauso wie die rund 80 Profi-Fußballspielerinnen, die es mittlerweile in Afghanistan gibt. Sie wurden nach Australien  ausgeflogen, auf Drängen unser Trainerin und mit Hilfe der Organisation Fifpro, die Profi-Fußballer unterstützt.

Kennen Sie Frauen in Ihrem Alter in Afghanistan?

Qasemi Zum Beispiel meine Cousinen; sie sind zwischen 16 und 23 Jahre alt. Wenn Sie sehen, wie offen und frei ich mich hier bewegen kann, sind sie erschüttert und traurig. Sie werden nicht mehr zur Schule gehen können; die Taliban sagen, Mädchen dürfen nur bis zur sechsten Klasse in die Schule gehen.  Im Moment dürfen Studentinnen noch die Uni besuchen, aber schon jetzt nur getrennt von den Männern und nur unterrichtet von Frauen. Es ist auch schon verboten, Musik zu hören. Ich habe gehört, dass schon zwei Volksmusiker hingerichtet wurden. Überhaupt werden bald wieder viele Menschen leiden, auch Männer und Volksgruppen wie die Hazaras, die aufgrund ihres schiitischen Glaubens, dem auch ich angehöre,  Jahrzehnte verfolgt, verachtet und sogar getötet wurden und werden, da sie in den Augen der Taliban damals wie auch heute Ungläubige sind. Auch auf die  LGBTQ-Gemeinde, also alle nicht-heterosexuell lebenden Menschen, werden schwere Zeiten der Verfolgung zukommen.

Glauben Sie, dass es für die Taliban schwieriger wird, diese Herrschaft umzusetzen, weil die Menschen sich vielleicht doch verändert  haben?

Qasemi Schwer zu sagen. Die Taliban sind zwar immer noch die Taliban von damals, aber die Frauen haben sich zum Glück verändert und nehmen nichts mehr so hin und sind gegebenenfalls bereit für ihre eigenen Rechte zu kämpfen, wie sie es schon vor einigen Wochen durch Proteste im eigenen Land taten.

Die Machtverhältnisse sind unübersichtlich; man konnte lesen, dass die Taliban zahlenmäßig zu schwach sind, um das ganze Land zu kontrollieren, und dass ihnen andere Extremisten wie der IS im Nacken sitzen. Wie sehen Sie die Zukunft des Landes?

Qasemi Ich glaube, die Zeichen stehen auf Bürgerkrieg. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Taliban und IS sich Land und Herrschaft friedlich aufteilen. Die werden sich gegenseitig bekämpfen, und dann bekommen wir Verhältnisse wie in Syrien.

Es ist ein Nebenaspekt, aber doch ein symbolschwerer: Wie geht es mit der afghanischen Nationalmannschaft weiter?

Qasemi Das weiß ich nicht. Im Moment gibt es einen Stopp; die Spielerinnen müssen erst einmal das Trauma dieser Machtübernahme überwinden. Außerdem sind noch Spielerinnen   im Land. Unsere Trainerin hat ihnen empfohlen, Trikots und alle Fotos, überhaupt alle Dinge, die mit Fußball zu tun haben, zu verbrennen. Wir können nicht einfach weitermachen und Fußball spielen, als wäre nichts gewesen.

Haben Sie eine Erklärung, warum die Taliban Afghanistan fast kampflos und so schnell wieder erobern konnten?

Qasemi Der afghanische Präsident hat sein Land verraten und verkauft. Ihm wird vorgeworfen, dass er diese Übernahme mit den Taliban ausverhandelt hat und dann aus dem Land geflohen ist. Er sagt, die Taliban hätten ihn gezwungen, das Land zu verlassen, und gedroht, ein Blutbad anzurichten, aber das glaubt ihm kaum jemand.

Dennoch: Warum diese rasche Übergabe? Haben die Taliban doch Rückhalt in der Bevölkerung?.

Qasemi Nein, bestenfalls in kleineren Gruppierungen. Ich glaube, die Menschen sind zermürbt von der Gewalt im Land, die seit 20 Jahren anhält. Es gab ewig Anschläge, Blutbäder, so viele Tote auch unter den Sicherheitskräften, immer wieder Anschläge. Die Leute haben keine Perspektive mehr gesehen und wollten einfach nur Ruhe. Wenn es eine Erwartung an die Taliban gibt, dann die, dass die Anschläge aufhören. Ansonsten wissen die Leute, was auf sie zukommt.

Inwiefern?

Qasemi Meine Cousinen dürfen nicht mehr ohne Vollverschleierung und ohne einen engen männlichen Verwandten auf die Straße, die Jungen und Männer dürfen keine Jeans oder westliche Kleidung mehr tragen. Wer in Jeans erwischt wird, wird ausgepeitscht. Die Nachrichtensprecherinnen verschwinden aus Radio und Fernsehen.

Sind  die Taliban eigentlich Afghanen?

Qasmi Nein; das sind Pakistani; sie werden in Pakistan ausgebildet und nach Afghanistan geschickt.

Gibt es Sprachbarrieren?

Qasemi Nein, sie sprechen alle wie die meisten Afghanen Paschtu und Farsi und beherrschen Urdu ebenfalls, da dies die pakistanische Nationalsprache ist

Wie sehen Sie die Vorgänge über die überstürzte Flucht des Westens aus dem Land?

Qasemi Das ist schlimm. Die Deutschen waren schon im Juni von ihrer Botschaft gewarnt, dass etwas Großes passieren wird. Unternommen wurde nichts. Außenminister Maas spricht immer von einer Fehleinschätzung. In Wahrheit war es totales Versagen.  Jetzt beginnt das Leiden vieler tausend Menschen, eigentlich vieler Millionen Menschen,  von Neuem.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort