Krefeld 100 Krefelder 100 Lieblingsbücher

Krefeld · Fontane und 50 Shades of Grey, Tom Sawyer und Momo, Nobelpreisträger und unbekannte mongolische Autoren stehen im druckfrischen "Krefelder Kanon der Literatur". 100 Leser aus der Seidenstadt stellen ihre persönlichen Favoriten vor: Krimis, Sachbücher, Bestseller und manchen Geheimtipp.

Krefelder und ihre Lieblingsbücher
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Heinrich Böll hat sein Scherflein dazu beigetragen, dass Frank Meyer heute Oberbürgermeister von Krefeld ist. Die "Ansichten eines Clowns" - eigentlich Schullektüre - haben Meyers politisches und gesellschaftliches Bewusstsein geprägt. Das verriet er jetzt bei der Vorstellung des "Krefelder Kanons der Literatur" in der Mediothek.

100 Krefelder Leser stellen darin ihre persönlichen Lieblingsbücher vor. "Es ist das lesende Gesicht der Stadt", sagt Ina Coelen. Die Autorin hat den Band gemeinsam mit Rita Mielke vom Kulturbüro "in medium" und Mediotheksleiter Helmut Schroers herausgegeben und ist glücklich über den weit gespannten Bogen durch die Literaturgeschichte, in der Joseph von Eichendorff und Stephen King, Mark Twain und Walt Disney, aber auch Arthur Rimbaud und der Krefelder Wolfgang Jachtmann ihren Platz haben. "Man ist vielleicht ein bisschen das, was man liest", sagte Meyer, der nicht zu den Kanon-Autoren zählt, aber sich vielleicht mit Nick Hornbys "Fever Pitch" ("Ballfieber") als leidenschaftlicher Fußballfan vorgestellt hätte.

Der Kanon ist ein kleiner Seismograph für das, was Leser bewegt. Das aufzuzeichnen war vor drei Jahren die Idee eines Essener Buchhändlers. Sein Projekt war Vorbild für die Krefelder Initiative. "Ich orientiere mich immer gerne an Empfehlungen von Menschen, die ich kenne", sagt Ina Coelen. Aber spannend ist es auch, zu entdecken, wer was warum liest. Das geschieht meist einsam im heimischen Lesesessel, auf dem Sofa, im Bett oder in der Bahn. Was ein Buch im Leser bewirkt, erfährt das Umfeld niemals direkt. Jetzt gibt es 100 Gegenbeispiele. Kriminalkommissar Gerhard Hoppmann zum Beispiel erklärt plausibel, warum er keine Krimis mag: In 25 Jahren als Leiter der Mordkommission hat er jährlich hunderte Seiten lange Unterlagen zu Tötungsdelikten und Vernehmungen gelesen und verfasst. Da taucht er lieber in die Historie ein. Mika Waltaris "Sinuhe, der Ägypter", das in Tagebuchform das abenteuerliche Leben des Leibarztes von Pharao Echnaton beschreibt, ist sein Favorit. Die "Ansichten eines Clowns" empfiehlt Werner Batzke, Direktor des Amtsgerichts, der das Buch 1979 als Abiturient entdeckte. Der Hauptfigur Hans Schnier aus Bonn fühlte sich Batzke damals sehr nah: "Nicht die Zerrissenheit zwischen einer Vergangenheit der Familie im Nationalsozialismus und Katholizismus bewegte mich. Es war aber die Zeit, in der die Partei Die Grünen gegründet wurde, der Pershing-II-Beschluss erzeugte eine Friedensbewegung, die mit der Demonstration im Hofgarten in Bonn (!) ihren Höhepunkt fand. Tiefe Umbrüche und eine neue Zeit, in der ich mein Studium begann." Sehr bewegend schildert Birgit August, Vorsitzende des Deutschen Kinderschutzbundes in Krefeld, wie viel Kraft sie gezogen hat aus Milan Kunderas "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins" über den Prager Frühling, das sie zu der Zeit las, als ihre Mutter im Sterben lag. Es ist auch das Lieblingsbuch von Wirtschaftsförderer Eckart Preen, der es als Glück empfindet, dass er 30 Kilometer westlich der innerdeutschen Grenze aufgewachsen ist, und seine Gedanken zur Freiheit an diesem Buch durchdekliniert hat.

Jüngster Tippgeber ist der achtjährige Max Braun, der Walt Disneys "Lustiges Taschenbuch 412" mit ulkigen Geschichten von Tick, Trick und Track empfiehlt. "Richtig gute Kinderbücher funktionieren immer auch für Erwachsene, die es sich erlauben, sich in Träumen gehenzulassen", sagt Herbert Genzmer. Der Niederrheinische Literaturpreisträger hat sich von Mark Twains "Tom Sawyer" so begeistern lassen, dass er den Nachhall immer noch spürt: "Manche Bücher bleiben auch nur als dumpfes Gefühl oder mit einem Satz hängen." Vielleicht ist wegen Tom Sawyer Amerika so wichtig für den Schriftsteller geworden. Professor Brigitte Tietzel, ehemalige Leiterin des Textilmuseums, hat ebenfalls beeinflusst von einem Buch die Reisekoffer gepackt: "Der Blaue Himmel" des mongolischen Schriftstellers Galsan Tschiang hat eine so tiefe Sehnsucht ausgelöst nach einem ihr bis dahin fremden Land: "Ich mache mir keine Illusion: Das Leben dort möchte ich nicht führen. Aber ich bin durch das Buch, den Autor und die Weite des Landes auf etwas in meinem Inneren gestoßen, das die Möglichkeit eines völlig anderen Lebens sehnsuchtsvoll begreift."

Laut Statistik der Buchhändler lesen Frauen deutlich mehr als Männer: Fast 70 Prozent der Kunden sind weiblich. Der Kanon, der nicht den Anspruch auf repräsentative Werte erhebt, sondern als subjektive Liebeserklärungen an Bücher verstanden werden darf, spricht eine andere Sprache: Das Verhältnis von Autoren und Autorinnen ist fast ausgewogen. Und nicht die Krimis stellen hier den Löwenanteil. Auch wenn Kabarettist Rüdiger Höfken eine deutliche Lanze für Stephen King bricht: "Wenn Sie die Bücher lesen, werden Sie feststellen, dass es keine wirklich gelungenen Verfilmungen gibt - nicht mal Shining kann mit dem Buch mithalten", sagte er. Für King-Lese-Einsteiger empfiehlt er keinen Schinken, sondern den 300-seitigen Entwicklungsroman "Joyland", der "den Vergleich zu Salingers Fänger im Roggen nicht zu scheuen braucht." Evelyn Buchholtz, Vizechefin der Mediothek, ficht leidenschaftlich für Elizabeth Georges Debüt "Gott schütze dieses Haus": "Aus meiner Sicht entscheidend für die Qualität dieses Krimis ist die Wucht, mit der die Abgründe, die sich bei fortschreitender Lektüre ahnen lassen, am Ende formuliert werden", sagt sie und spricht von einem Meilenstein des Genres.

Auch Sachbücher gibt es unter den Favoriten. Theaterpädagoge Dirk Wiefel stellt Marcel Cremers "Der unsichtbare Zuschauer" vor und bietet damit Einblicke in die Arbeit des Regisseurs des Agora-Theaters. Und Tagrid Yousef, Krefelder Integrationsbeauftragte, wird für einen Run auf das Biologiebuch von Tobias Niemann und Günter Mattei sorgen: In "Kamasutra kopfüber" geht es um die 77 originellsten Formen der Fortpflanzung. Die Beispiele aus dem Tierreich sind ebenso amüsant wie lehrreich. Yousef, die auch Biologielehrerin ist, setzt das Buch auch mal zu Demozwecken im Unterricht ein, wenn die Schüler davon ausgehen, dass nur der Mensch originelle Ideen in Sachen Sexualität habe. "Es zeigt: Eigentlich kann der Mensch nichts richtig gut, sondern von allem nur ein wenig. Das gilt auch für den Sex", sagt sie. Und dass der Klappentext warnt: "Nicht für Jugendliche unter 16 Jahren geeignet", wird die Neugier noch schüren.

"Krefelder Kanon der Literatur. 100 Leser 100 Bücher 100 Meinungen" ist erschienen in einer Auflage von 700 Exemplaren bei erste liga in der Edition Schmitz. Es kostet 14,90 Euro im Buchhandel: ISBN 978-3-932443-52-7.

(RP)