Korschenbroich Ungarische Schüler erleben Geschichte

Korschenbroich · Neun Jugendliche aus Szolnok sind zurzeit am Gymnasium zu Gast. Zeitzeuge Jürgen Striehler berichtete dort über seine 2300 Kilometer lange Flucht aus der DDR, die ihn über Ungarn führte.

 Der Zeitzeuge Jörg Stiehler (r.) zeigt den neun Austauschschülern aus Szolnok auf der Karte seine Fluchtroute, die durch Ungarn führt.

Der Zeitzeuge Jörg Stiehler (r.) zeigt den neun Austauschschülern aus Szolnok auf der Karte seine Fluchtroute, die durch Ungarn führt.

Foto: cka

Wer heute 25 Jahre alt ist, der kennt nur ein Deutschland. Eine freie, westlich orientierte und offene Nation ohne Verfolgung mit einem funktionierenden Wirtschaftssystem - und ohne Mauern.

Vor dem 9. November 1989 allerdings gab es ein zweigeteiltes Deutschland. Davon berichtete jetzt der Zeitzeuge Jörg Stiehler (42) im Gymnasium Korschenbroich (Gyko). Dort sind aktuell neun Austauschschüler und zwei Lehrerinnen aus der rund 1300 Kilometer entfernten ungarischen Stadt Szolnok zu Gast.

Sie sind heute im Durchschnitt genau so alt wie Jörg Stiehler, als er im Juni 1989 mit 16 Jahren aus seiner damaligen Heimat, einer Plattenbau-Siedlung in Dresden, in 34 Stunden in die Bundesrepublik flüchtete. Auf der Flucht durchquerte er neben der damaligen Tschechoslowakei und Österreich auch Ungarn, das Land, aus dem die neun Austauschschüler stammen. Sie können heute ohne Ausreisegenehmigung für knapp eine Woche Station in Korschenbroich machen.

Kurz nach der deutsch-deutschen Wiedervereinigung 1990, wenige Monate nach dem Mauerfall und Jörg Stiehlers Flucht aus der kommunistischen DDR, entstand eine Schulpartnerschaft zwischen dem Gyko und einem Gymnasium in Szolnok. "Diese wird bis heute von beiden Seiten intensiv gepflegt", sagt Schulleiter Uwe Roscheck. Dessen Vor-Vorgänger Meinulf Barbers hatte den Austausch nach dem Besuch einer ungarischen Delegation im Rhein-Kreis im Schulprogramm verankert. Damit pflegt das Gyko die längste Partnerschaft zu einer ungarischen Schule in NRW.

Seit der ersten Stunde dabei ist Turiné Szalai Erika, Deutschlehrerin am ungarischen Gymnasium. Auf der deutschen Seite koordiniert Geschichtslehrer Patrick Albrecht den Austausch. Zu dessen Programm gehörte nicht nur das Zeitzeugen-Gespräch mit Jörg Stiehler, sondern auch Besuche in Mönchengladbach, Köln, Düsseldorf und Aachen. "Korschenbroich ist klein, aber gemütlich. Und es ist erstaunlich, dass es so viele Geschäfte gibt", sagt Schüler Pongò A'Kos (17). Er fühlt sich bei seiner Gastfamilie in Korschenbroich wohl - und hat genau wie Gabriel Püllen (16) abgesehen von den unterschiedlichen Musikvorlieben kaum gravierende Unterschiede festgestellt. "Wir Jugendlichen denken auf die gleiche Art. Und sogar die Verständigung gelingt gut", sagt Püllen.

Die Gymnasiasten verfolgten gespannt die Erzählungen von Jörg Stiehler, der im Juni 1989 noch nicht wissen konnte, dass die DDR wenige Monate später zusammenbrechen würde. Er nutzte die "Löcher im Zaun" der ungarisch-österreichischen Grenze und verbindet mit Ungarn heute das wohl größte Abenteuer seines Lebens: die 2300 Kilometer lange Flucht gen Westen. "Meine Geschichte möchte ich an jüngere Menschen weitergeben", sagt Stiehler, der in Hamburg lebt.

(NGZ)
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