Ehemaliger Förderschüler Nenad gegen das Land NRW

Nenad Mihailovic ist davon überzeugt, dass er von Pädagogen fälschlicherweise als geistig behindert eingestuft wurde. Er musste jahrelang Förderschulen besuchen. Nun verklagt er das Land NRW. Beim Prozessauftakt ging es auch um seine verpassten Chancen.

 Nenad Mihailovic im Gericht in Köln.

Nenad Mihailovic im Gericht in Köln.

Foto: dpa, fg kno

Nenad Mihailovic steht am Dienstagmorgen vor Saal 126 des Kölner Landgerichts. Kameras klicken, Journalisten umringen ihn, halten dem 20-Jährigen ihre Mikrofone hin. "Ich fühl mich wie ein Promi", sagt Nenad, zieht seinen dunkelblauen Mantel zurecht und lacht. Dass sein Prozess so viele interessiert, hätte er nicht gedacht, sagt er.

Der Vorsitzende Richter der 5. Zivilkammer, Reinhold Becker, eröffnet das Verfahren: "Nenad Mihailovic gegen das Land NRW." Nenad war elf Jahre auf Förderschulen, weil Pädagogen ihn als geistig behindert eingestuft hatten — zu Unrecht, wie Nenad nun beweisen will. Er verklagt das Land wegen Amtspflichtverletzung auf Schadenersatz und Schmerzensgeld in Höhe von 52.000 Euro. Es geht um verpasste Chancen, aber auch um Verdienstausfall. Wenn er seinen Realschulabschluss hat, ist er fast 21. Andere haben in dem Alter längst feste Jobs.

"Mich freut Ihre schulische Entwicklung ", sagt Richter Becker. Als Klassenbester hat Nenad 2015 den Hauptschulabschluss gemacht, Note 1,6. Nenad verhaspelt sich bei den ersten Sätzen vor Gericht. "Ich bin etwas nervös, sorry", sagt er. Die Fragen, die die Kammer klären muss, sind: Was wäre gewesen, wenn Nenad schon viel früher in eine Regelschule gekommen wäre? Wie wäre seine Entwicklung gewesen, wenn er anders gefördert worden wäre? Wäre sein bisheriges Leben dann tatsächlich anders verlaufen? Hätte er schon längst einen Beruf, eine feste Stelle? Oder war es möglicherweise vertretbar, dass er auf einer Förderschule bleiben musste?

"Das alles ist für uns schwierig zu beurteilen", sagt Becker. Es gebe keine Kausalität. Das heißt: Wenn Nenad auf einer anderen Schule gewesen wäre, würde das nicht automatisch bedeuten, dass er dort einen Abschluss gemacht hätte. Der Richter verweist auf die schwierigen Familienverhältnisse des Schülers, der Vater war jahrelang nierenkrank, Nenad musste sich kümmern, er hat fünf Geschwister. 2015 starb der Vater. "Ist eine Schule dafür da, Defizite, die das Elternhaus mitbringt, auszugleichen", fragt der Richter.

Im Zuschauerraum wird es unruhig. "Bullshit", sagt eine Frau voller Empörung. Nenad hat viele Unterstützer. Der Richter sagt zu ihm: "Ich kann Ihre Situation gut verstehen, dass Sie unglücklich waren und unterfordert - aber es sind sehr hohe Klippen, die Sie hier überwinden müssen." Die Kammer braucht Beweise.

Nenads Anwältin Anneliese Quack sagt: "Die Dinge sind klar definiert: Eine Förderung geistiger Entwicklung ist nur dann erforderlich, wenn jemand dauerhaft auf die Hilfe Dritter angewiesen ist." Sie schaut zu Nenad und sagt: "Wenn er den Mund aufmacht, merkt man, dass der junge Mann keine geistige Behinderung hat." Der Förderschwerpunkt sei immer falsch gewesen.

Für das Land NRW, vertreten durch die Bezirksregierung Köln, ist Rechtsanwältin Simone Staab beim Prozess. Sie sagt: "Damals wurde der Förderbedarf von der Schule festgestellt. Und er wurde immer wieder überprüft." Das bestreitet Nenad. Er sei auf der Förderschule in Köln-Poll innerhalb von sechs Jahren nie wieder getestet worden, habe sich, seit er 13 Jahre alt war, darum bemüht, auf eine andere Schule zu kommen.

Gericht fordert weitere Unterlagen

Nenads Anwältin muss nun innerhalb von drei Wochen noch mehr Unterlagen einreichen, die beweisen könnten, das Nenad zu Unrecht auf der Förderschule war. Die Kammer will unter anderem seine vollständige Schulakte sehen und die Beurteilungen der Schule. Das Land muss dann dazu Stellung nehmen.

Nach dem Prozess sagt Nenad: "Ich hoffe, der Richter ist auf meiner Seite, wenn er mehr Unterlagen bekommt." Keiner könne letztlich nachvollziehen, wie es sich angefühlt habe, auf der falschen Schule zu sein. Elf Jahre lang.

Nenad geht nach Hause. Er will lernen. Am Mittwoch schreibt er eine VWL-Klausur.

(hsr)
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