Opfer von Sexualstraftaten vor Gericht „Ich hatte Angst, dass er mich angrinst und verhöhnt“

Köln · Nach der Kölner Silvesternacht und der „Me too“-Debatte zeigen immer mehr Frauen Sexualstraftaten an. Der Weg durch das Ermittlungsverfahren bis hin zum Prozess ist aber quälend - und Experten raten nicht grundsätzlich zu einer Anzeige. Eine junge Kölnerin ist den Weg gegangen und erzählt, wie es ihr heute geht.

Tatort Uni-Campus: Hier überfiel der Täter die Studentin.

Tatort Uni-Campus: Hier überfiel der Täter die Studentin.

Foto: RPO/Claudia Hauser

Es waren vielleicht 300 Meter bis zu ihrem Zuhause im Kölner Stadtteil Lindenthal, als die Studentin Sarah W. (Name geändert) in einer Mainacht vor drei Jahren von hinten gepackt wurde. „Im ersten Moment dachte ich, es sei ein Freund“, sagt die 24-Jährige. Doch dann sah sie das Messer vor ihrem Bauch. Der Täter nahm sie in den Schwitzkasten und zog sie vom Uni-Campus hinter das Philosophikum.

„Erst wollte er Geld, ich hatte aber nur 20 Euro und hab ihm angeboten, am Automaten mehr zu holen.“ Die meiste Angst habe sie vor dem Messer gehabt. Vom Täter sah sie die ganze Zeit nur eine Hand, er hielt Sarah W. vor sich fest, als er plötzlich verlangte, dass sie ihre Hose auszieht. „Ich hab gesagt: Mach, was du willst, aber schmeiß das Messer weg“, erzählt sie. Der Täter legte das Messer erst auf dem Boden ab und warf es dann hinter sich. Sarah W. nutzte den Augenblick und lief los, doch der Mann holte sie ein. „Ich dachte, jetzt ist alles vorbei.“ In Todesangst ließ sie die Vergewaltigung über sich ergehen und dachte immerzu an das Messer. „Ich hab mich gefragt: Was passiert hier gleich? Was macht er, wenn er fertig ist?“

Sarah W. gelang die Flucht, obwohl der Täter noch einmal versuchte, sie festzuhalten. Er bekam ihre Tasche zu fassen, sie wand sich raus und rannte nach Hause. Eine Überwachungskamera an der Uni zeichnete die dramatische Szene auf. „Die Polizei hat mir nie das Gefühl gegeben, mir nicht zu glauben, aber ich war trotzdem erleichtert, als sie mir erzählt haben, dass sie mich auf den Kameraaufnahmen gesehen haben“, sagt Sarah W.

In Nordrhein-Westfalen wurden im vergangenen Jahr 14.076 Sexualstraftaten angezeigt, im Vergleich zum Vorjahr sind das 1190 Fälle mehr, ein Plus von mehr als neun Prozent. Die schweren Sexualdelikte wie sexuelle Nötigung und Vergewaltigung sind zwar zurückgegangen, von 2553 auf 2138 Fälle, aber NRW-Innenminister Herbert Reul sprach bei der Vorstellung der Kriminalitätsstatistik im Februar von einer „sehr ernstzunehmenden Entwicklung“. Fakt ist: Nach der Kölner Silvesternacht und durch die „Me too“-Debatte hat sich das Anzeigeverhalten verändert, nach einer Sexualstraftat wagen mehr Frauen den Schritt, zur Polizei zu gehen. „Aber das Ermittlungsverfahren und der Prozess wird von vielen Frauen als sehr belastend empfunden“, sagt die Diplom-Sozialpädagogin Irmgard Kopetzky. „Man muss einigermaßen stabil sein, um das durchzustehen.“ Kopetzky berät beim Kölner Verein „Frauen gegen Gewalt“ vergewaltigte Frauen. Sie und ihre Kolleginnen begleiten die Frauen auch zur Polizei oder zum Gericht. Kopetzky weiß, Sie dass es nicht immer so schnell zum Prozess kommt wie im Fall von Sarah W. Und sie kennt das Unverständnis der Opfer, wenn ein Beschuldigter frei gesprochen wird oder das Ermittlungsverfahren eingestellt wurde.

Ende 2016 verurteilte das Kölner Landgericht einen BWL-Studenten für die Vergewaltigung von Sarah W. Der 24-Jährige hatte den ganzen Prozess über geschwiegen. Doch Ermittler hatten seine DNA am Tatort auf dem Uni-Campus sichern können, er hatte Fingerabdrücke auf der Kondomverpackung und an der Jacke von Sarah W. hinterlassen. Eine Auswertung seines Mobiltelefons zeigte, dass er sich nach der Vergewaltigung im Netz darüber informiert hatte, wie sich Spuren der Tat am besten verwischen lassen.

Der 24-jährige Täter (l.) mit seinem Verteidiger im November 2016 Kölner Landgericht. (Archiv)

Der 24-jährige Täter (l.) mit seinem Verteidiger im November 2016 Kölner Landgericht. (Archiv)

Foto: Claudia Hauser

Innerhalb von neun Tagen hatte der Mann aus Mali vier Frauen überfallen. Eine von ihnen entging offenbar nur knapp einer Vergewaltigung, der Täter hatte ein ausgepacktes Kondom schon griffbereit im Schuh. Doch die 25-Jährige konnte sich losreißen und flüchten. Wegen besonders schwerer Vergewaltigung und besonders schwerer räuberischer Erpressung verurteilte das Gericht ihn zu zehneinhalb Jahren Haft. Die Staatsanwaltschaft hatte zwölf Jahre gefordert.

Sarah W. ist froh darüber, wie es gelaufen ist. Auch wenn die Aussage vor Gericht sie gequält hat – wenn der Täter gestanden hätte, hätte das Gericht vermutlich auf ihre Vernehmung verzichtet. „Es war schon unangenehm, die ganzen Details erzählen zu müssen“, sagt sie. „Am schlimmsten war für mich, dass ich ihn einmal anschauen sollte und sagen, ob ich ihn wieder erkenne – das hab ich aber nicht. Ich hatte sein Gesicht ja nie gesehen.“ Auch die Frage zur Größe des Messers konnte sie nicht beantworten. „Das hatte ich verdrängt.“

Der Kölner Verein rät nicht grundsätzlich dazu, eine Anzeige zu erstatten, sondern zeigt den Frauen auf, was dafür und was dagegen spricht. „Meine Erfahrung ist, dass Frauen, die den Weg gehen, dadurch einen Teil ihrer Selbstbestimmtheit zurück erlangen, weil sie sich wehren, Grenzen aufzeigen, für sich einstehen.“ Bei den polizeilichen Vernehmungen und im Gericht werden sie aber an die Gefühle und Erlebnisse erinnert, die sie vielleicht verdrängt haben und die sie am liebsten vergessen würden. Kopetzky und ihre Kolleginnen, die alle ehrenamtlich arbeiten, versuchen den Frauen klar zu machen, dass es nicht an ihnen liegt, wenn ein Beschuldigter frei gesprochen wird – aus Mangel an Beweisen etwa. „Es gibt oft keine Zeugen bei Sexualstraftaten“, sagt Kopetzky. Und der Täter könne hinterher behaupten: „Klar gibt es Spermaspuren, wir hatten ja auch Sex, aber das war freiwillig.“ Das Gericht muss dann das Gegenteil beweisen.

„Es ist deshalb so wichtig, dass die Frauen so bald wie möglich nach der Tat zum Arzt gehen und Spuren dokumentieren lassen.“ In Köln geht das seit 2011 anonym. Ist eine Frau erst einmal nicht in der Lage zu entscheiden, ob sie den Täter anzeigen will oder nicht, kann sie in eine von fünf Kölner Kliniken gehen und sich untersuchen lassen. Die Ärzte dokumentieren Verletzungen und nehmen Blut-oder Urinproben, wenn der Verdacht besteht, dass der Täter dem Opfer K.O.-Tropfen gegeben hat. Die gesicherten Spuren werden anonymisiert im Institut für Rechtsmedizin der Uniklinik gelagert und zehn Jahre aufbewahrt. Mit Hilfe einer Chiffrenummer können sie bei einer späteren Anzeigenerstattung zugeordnet werden und im Prozess wichtige Beweise sein. Eine Vergewaltigung verjährt erst nach 20 Jahren.

Dass eine Frau aus dem Nichts überfallen wird wie Sarah W. ist bei Sexualdelikten eher selten. „Die meisten Frauen haben die Täter gekannt, manchmal sind es die Partner oder jemand aus dem Freundes- oder Kollegenkreis“, sagt Kopetzky. „Je näher der Täter einem ist, desto schwieriger wird es, ihn anzuzeigen.“ Sie hat viele Frauen erlebt, die erst sehr spät Hilfe suchen, weil sie merken, dass sie es nicht schaffen, allein mit den Folgen der Tat klarzukommen. „Sie bekommen Schlafstörungen, Panikattacken, werden krank und merken, dass es nicht gelingt, alles zu verdrängen und die Fassade aufrecht zu erhalten.“ Viele erlebten im Freundeskreis Gegenwind und Abschwächungsversuche, wenn sie anfangen, darüber zu sprechen, wie Kopetzky sagt. „Weil nicht sein kann, was nicht sein darf – man müsste dann ja auch als Freundin Konsequenzen ziehen, sich vom Täter abwenden, Stellung beziehen. Die Frauen bekommen bei Unverständnis im Freundeskreis dann häufig das Gefühl, nun völlig die Kontrolle zu verlieren.“ Manche Frauen kämen erst Jahre nach der Tat. „Sie merken: Das geht nicht einfach wieder weg. Manche wurden als Jugendliche vergewaltigt und alles kommt plötzlich hoch, weil die eigene Tochter inzwischen in dem Alter ist“, sagt Kopetzky.

Sarah W. hat von Anfang an dagegen angekämpft, dass die Tat ihr Leben zu sehr beeinflusst. Gleich am nächsten Tag ist sie mit ihrem Freund und ihren Eltern zurück zum Campus, weil sie keine Angst vor dem Ort haben wollte. „Mein Grundvertrauen war erschüttert, das kann ich sagen, aber sobald ich in meiner Wohnung war, hab ich mich sicher gefühlt.“ Die weltoffene Studentin fand besonders schlimm, dass sie auf einmal zusammen zuckte, wenn ihr ein dunkelhäutiger Mann begegnete, weil auch der Täter dunkelhäutig ist. „Das fand ich wirklich schlimm, das wollte ich nicht“, sagt sie.

Doch die Verarbeitung brauchte Zeit. Sarah W. wollte so schnell wie möglich zurück in ihren Alltag und wurde dann doch ausgebremst. „Zwei oder drei Wochen nach der Tat hatte ich einen Zusammenbruch an der Uni. Ich musste weinen, konnte tagelang nichts essen, musste mich übergeben“, sagt sie. In einer Beratung lernte sie, dass sie sich Zeit zur Verarbeitung geben muss, sie ließ einige Klausuren ausfallen und versuchte, sich einen schönen Sommer zu machen. Sie ging für ein Semester ins Ausland, reiste zum Prozess im Herbst an. Zurück in Köln meldete sie sich zu einem Selbstverteidigungskurs an – und musste abbrechen, weil sie in der ersten Übung von hinten gepackt wurde. „Da dachte ich: Krass, das geht einfach noch nicht.“ In einer Selbsthilfegruppe lernte sie, dass sie nicht die einzige ist, dass sie normal reagiert. Und sie traf eine der Frauen, die der Täter wie sie in Lindenthal überfallen hat. „Ich weiß noch, dass ich vor dem Prozess Angst hatte, dass er mich angrinst, verhöhnt“, sagt sie. Doch im Zeugenstand spürte sie, dass man ihr zuhört, dass sie im Recht ist. Der Täter habe die ganze Zeit vor sich auf den Tisch gestarrt. „Das war ein gutes Gefühl. Ich wusste: Jetzt rede ich und du wirst für das bestraft, was du mir angetan hast.“

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