Keupstraße in Köln Die Straße der anderen

Köln · Seit dem NSU-Anschlag haben die Menschen auf der Kölner Keupstraße viel durchgemacht: falsche Verdächtigungen, mangelnde Aufklärung, Misstrauen. Doch es gibt Aufarbeitung – und nun das NSU-Urteil. Was hat all das mit der Straße gemacht?

 Tausende Menschen drängen 2014 beim Kulturfest „Birlikte - Zusammenstehen" zum Gedenken an den von der NSU verübten Nagelbombenanschlag in Köln durch die Keupstraße.

Tausende Menschen drängen 2014 beim Kulturfest „Birlikte - Zusammenstehen" zum Gedenken an den von der NSU verübten Nagelbombenanschlag in Köln durch die Keupstraße.

Foto: picture alliance / dpa/Henning Kaiser

Als die Keupstraße dachte, es könne nicht schlimmer kommen, kam der 9. Juni 2004. Es war ein geschäftiger Mittwochnachmittag in der türkisch geprägten Straße in Köln-Mülheim, an dem die Bombe hochging. 702 Zimmermannsnägel – jeder zehn Zentimeter lang und fünf Millimeter dick – flogen mit der unvorstellbaren Wucht von 5,5 Kilogramm Schwarzpulver durch die enge Straße. Die Nägel bohrten sich in die Körper der Dutzenden Passanten, die Druckwelle warf sie zu Boden, die Hitze ließ ihre Kleidung und ihre Haut brennen. An diesem Tag leisteten die Kölner Krankenhäuser mehrere Notoperationen, wie durch ein Wunder starb am Ende niemand durch den Anschlag des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). 22 Menschen wurden damals verletzt, doch die Nachwirkungen der Bombe sollten die ganze Straße treffen.

Das Herz der Keupstraße ist 400 Meter lang und beginnt an der Ecke, an der abends Konzertbesucher ins benachbarte Industriegebiet zum E-Werk und Palladium abbiegen. Eine große Leuchtreklame – „Willkommen in der Keupstraße“ – schwebt über dem Asphalt, dahinter reihen sich türkische Geschäfte aneinander: Restaurants zeigen in großen Schaufenstern Fleischspieße, Juweliere überbieten sich mit goldenen Auslagen, Einrichtungsläden preisen strassbesetzte Spiegel an. Wer die Keupstraße besucht, landet irgendwann im Lottokiosk von Cemal Güzel. Um eine Cola zu kaufen oder Zigaretten, oder um einen Restauranttipp zu bekommen, Geld zu tauschen, den Weg zu erfragen. Für Güzel ist die Keupstraße schon lange Lebensmittelpunkt, er ist einer derjenigen, die wissen, wie die Straße vor dem Bombenanschlag war – nämlich „eine der friedlichsten Straßen Kölns“. Das Problem: Der Rest der Stadt wusste das nicht.

Anfang 2000 war die Keupstraße verschrien

Die Keupstraße war Anfang der 2000er verschrien, „Türkenstraße“ wurde sie genannt oder „Klein Istanbul“. Güzel erinnert sich an die Nachrichtensprecherin von RTL, die am Tag des Anschlags von einem „Drogen- und Kriminalitätsschwerpunkt“ sprach – und die Keupstraße meinte. Altlasten aus den 70er und 80er Jahren seien diese Vorurteile gewesen, sagt er. Damals habe es viele Kneipen gegeben, und wenn Alkohol im Spiel sei, komme es manchmal zu Streit. Doch es gab auch einen handfesten Grund, der das Image der Straße prägte: 400 Kilogramm Heroin, versteckt in Möbeln aus Istanbul, fanden Ermittler 2002 auf der Keupstraße. Auch, wenn dafür nur eine kleine Gruppe verantwortlich war – die Straße wurde in Sippenhaft genommen.

Und dann kam die Bombe. Genau genommen, sagen die Menschen hier, waren es zwei: die aus den Nägeln des NSU und die aus den Schikanen der Polizei. Schon wenige Stunden nach dem Anschlag schlossen die Behörden einen fremdenfeindlichen Hintergrund aus. Stattdessen fragten sie die Verletzten aus dem Reisebüro gegenüber, ob sie die Bombe wegen Versicherungsbetrugs gezündet hätten. Sie zerrten den Friseur, vor dessen Laden die Bombe explodiert war, mehrfach vor seinen Kindern zum Verhör. Sie vermuteten Schutzgelderpressung. Nur Rechtsterrorismus, den vermuteten sie nicht.

Dabei hatte der Mörder Uwe Mundlos noch durch das Fenster in den Friseursalon geschaut, nachdem er das Fahrrad mit der Bombe abgestellt hatte. Dass der Friseur und andere später der Polizei erzählten, dass es ein blonder Mann mit Käppi gewesen sei, brachte die Polizei nicht davon ab, den Täter im Keupstraßenmileu zu suchen. Es dauerte nicht lange, da wussten die Menschen selbst nicht mehr, wem sie in der Nachbarschaft noch trauen konnten. Was, dachten sie, wenn es doch einer von uns war?

Nach dem Anschlag mieden die Kölner die Straße noch mehr

Viele Kölner mieden die Keup­straße fortan, mehr denn je war es die Straße der anderen. Geschäfte mussten schließen, wer noch eine Heimat in der Türkei sah, ging dorthin zurück. Und immer wieder dieses Misstrauen. Wie kommt man da nur raus?

Als 2011 klar wurde, dass sich alle geirrt hatten – alle, außer den Menschen der Keupstraße selbst, dass der NSU auch für den Anschlag in Köln-Mülheim verantwortlich war, gaben sich die Politiker die Klinke in die Hand. Sie schüttelten Hände, sprachen den Leuten gut zu, machten Fotos. Doch nach dem Trubel blieb die Leere. Bis heute, heißt es, habe etwa der Friseur keine finanzielle Unterstützung bekommen. Er schneidet noch immer Haare in einem Hinterhof der Straße. Mit Journalisten will er nicht mehr reden – zu oft musste er von diesem schrecklichen Junitag erzählen.

Als die Befreiung kam, traute Meral Sahin ihr nicht über den Weg. Die Sprecherin der Interessengemeinschaft (IG) Keupstraße steht in ihrem Laden für Hochzeitsdekoration und klebt Plastikblüten kunstvoll zusammen. Sie erinnert sich, wie Thomas Laue, der Dramaturg des Kölner Schauspielhauses, 2013 in ihr Geschäft kam. Er wolle ein Theaterstück über die Keupstraße machen. Darüber, wie den Menschen misstraut wurde. „Er war zäh“, sagt Sahin. Also versuchten sie es. Und die Keupstraße, müde vom Schweigen und der Isolation, machte mit.

2014, zum zehnten Jahrestag des Anschlags, hatte „Die Lücke“ Premiere. Drei Menschen von der Keup­straße spielen darin mit drei Profi­schauspielern. In Videos erzählen andere Bewohner der Straße, wie es ihnen ergangen ist. Als Sahin das Stück zum ersten Mal sah, weinte sie – vom Anfang bis zum Ende. „In diesem Moment habe ich Kraft getankt, die bis zum Ende meines Lebens reicht“, sagt sie. Weil das ganze Leid endlich ausgesprochen wurde. Weil es gehört wurde. Bis heute haben Tausende das Stück gesehen, das Schauspielhaus zeigt es noch immer.

Zeitgleich riefen das Schauspielhaus und die IG Keupstraße das Birlikte-Festival ins Leben. Birlikte ist Türkisch und bedeutet „zusammenstehen“ – also standen die Kölner zusammen: 70.000 Menschen kamen zur Keupstraße, der damalige Bundespräsident Joachim Gauck sprach mit dem Friseur und auf der großen Bühne. Dutzende Künstler, darunter Clueso und die Fantasischen Vier, traten auf. Auf der Keup­straße verkauften die Geschäfte ihre Waren unter freiem Himmel, in Hinterhöfen lasen sie die Protokolle aus den NSU-Untersuchungsausschüssen vor. Auf den Straßen wurde gekocht, Deutsche und Migranten kamen ins Gespräch – endlich. „Eine Lawine der Liebe“, sagt Sahin. Dreimal feierte Köln Birlikte, dann wurde die Organisation zu aufwendig.

Was also bleibt vom Anschlag? Körperliche Narben und seelische Wunden. Wut, dass auch nach dem Urteil nicht klar ist, welche Beziehung etwa der Verfassungsschutz zum NSU-Netzwerk hatte. Angst, dass es noch Helfer von Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gibt, die frei herumlaufen. Aber auch ein neues Selbstbewusstsein der Keupstraße.

Die stete Polizeipräsenz nach dem Anschlag hat die Kriminellen vertrieben. Schon lange, sagt der Bezirksbürgermeister Norbert Fuchs, gebe es gefährlichere Orte als die Keupstraße. Heute leben hier Türken, Kurden und Deutsche, Anhänger von Erdogan, Gülen und Merkel, tief Gläubige und Atheisten. „Jeder weiß, was der andere für eine politische Einstellung hat“, sagt Sahin. Doch auf der Straße, bei Kaffee und Zigaretten,  ziehen sie sich nur gegenseitig damit auf. Einen Tag nach dem Putsch in der Türkei servierte ein Erdogan-Anhänger einem Erdogan-Gegner den Tee. Am Ende, sagen sie, wiegt die Nachbarschaft mehr als die Politik.

Die Geschäftsleute der Straße sind heute zum Großteil Deutsche, die auch Türkisch sprechen. Sie füllen mit ihren Geschäften Marktlücken, nutzen ihre Traditionen als Alleinstellungsmerkmal im Wettbewerb der Einzelhändler. Sie geben den Türken ein Stück Heimat, den Deutschen wollen sie einen Ausflug in den Orient bieten. Wenn sie denn nur kämen. Zwar halte wohl keiner mehr die Keupstraße für einen Drogenumschlagplatz. Doch noch immer sehe man zu wenige deutsche Gesichter, sagen viele hier. Dabei wollen die Geschäftsleute die Deutschen als Kunden: „Wenn ein Deutscher bei dir einkauft, bedeutet das Anerkennung“, erklärt Meral Sahin. Und das ist alles, was sie wollen.

Bis sie die wirklich haben, geht der Alltag in der Keupstraße weiter. Im Lottokiosk von Cemal Güzel kauft ein Mann Spielscheine fürs Wochenende. Früher, erzählt Güzel, war es Pflicht, die Namen der Kunden auf den Scheinen zu notieren. „Damals haben meine Kunden gesagt: Die sehen unsere türkischen Namen und lassen uns nicht gewinnen“, sagt Güzel. Jetzt ist alles anonym. Jetzt, so hoffen sie, haben alle die gleichen Chancen. Der Kunde winkt dem Kioskbesitzer zum Abschied mit seinem Lottoschein. „Vielleicht“, sagt er, „gewinnt ja dieses Mal die Keup­straße.“

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