Vater kämpft gegen Fahrradunfälle „Kerstin soll nicht umsonst gestorben sein“

Köln · Die Zahl der verunglückten Radfahrer in NRW ist gestiegen. Sie haben vor allem dann keine Chance, wenn sie von einem abbiegenden Lkw erfasst werden – so wie die Tochter von Werner Hartmann, die vor sechs Jahren in Köln starb. Seither ist er zum ruhelosen Kämpfer geworden.

 Ein Geisterrad als Mahnmal: Werner Hartmann an der Straße, an der seine Tochter starb.

Ein Geisterrad als Mahnmal: Werner Hartmann an der Straße, an der seine Tochter starb.

Foto: RPO/Claudia Hauser

Vom Tod seiner Tochter erfuhr Werner Hartmann aus dem Radio. „In Köln ist eine Radfahrerin bei einem Unfall mit einem Lastwagen getötet worden.“ Eine kurze nachrichtliche Meldung. Es hätte jede Radfahrerin sein können, aber Hartmann sagt, er wusste, dass es seine Tochter Kerstin ist. „Ich habe das Radio ausgemacht und gewartet“, sagt er. Der Anruf mit der Todesnachricht kam erst am Abend.

Fast sechs Jahre ist das her. Kerstin Hartmann starb am 9. April 2013 um 16.55 Uhr an der Oskar-Jäger-Straße in Köln-Ehrenfeld. Die 29 Jahre alte Unfallchirurgin hatte noch gegen den Lastwagen geklopft, der sie auf ihrem Rad beim Abbiegen auf ein Firmengelände zur Seite drängte. Eine Zeugin hatte das beobachtet. Doch der Fahrer hörte das Klopfen offenbar nicht. Kerstin Hartmann wurde unter den Reifen gezogen und überrollt.

Der Lastwagenfahrer sagt später, er habe geglaubt, eine Mülltonne überfahren zu haben, als er das Scheppern des Fahrrades hörte. Ein Jahr nach dem Unfall wurde der 60-Jährige wegen fahrlässiger Tötung zu sechs Monaten Haft und 3000 Euro Geldbuße verurteilt. Im Prozess sprach er Werner Hartmann sein „tief empfundenes Beileid“ aus.

Hartmann lebt in Süddeutschland. Er kommt mindestens einmal im Jahr zu dem Ort, an dem seine Tochter gestorben ist. Ein Geisterrad ist dort an eine Ampel gekettet. In Köln stehen viele dieser weiß gestrichenen Räder, die als Mahnmal an tödlich verunglückte Radfahrer erinnern sollen. Allein im vergangenen Jahr sind wieder drei Radfahrer in Köln durch rechts abbiegende Lastwagen getötet worden. Zu ihnen gehört ein sieben Jahre alter Junge, der im Mai auf dem Weg zur Schule von einem Müllwagen überrollt wurde. Zehn Feuerwehrleute und sechs Polizisten mussten nach der Bergung des toten Kindes ihren Dienst abbrechen und von Psychologen betreut werden.

Kameras oder Ultraschallsensoren

In Nordrhein-Westfalen ist die Zahl der verunglückten Radfahrer im  vergangenen Jahr gestiegen. In Essen etwa um fast ein Drittel, in Düsseldorf sind bis November 847 Radfahrer verunglückt, das sind 41 mehr als im gesamten Vorjahr. Insgesamt gab es nach Angaben des NRW-Innenministeriums in den ersten drei Quartalen 14.807 Unfälle, in die Radfahrer verwickelt waren. Zwölf Radfahrer starben in NRW, weil sie von einem rechts abbiegenden Lkw erfasst wurden, das sind vier mehr als im Vorjahr. Bundesweit waren es 38. Die Zahlen für das gesamte Jahr stehen noch aus.

Werner Hartmann ist seit dem Tod seiner Tochter zum ruhelosen Kämpfer geworden. Er schreibt an Politiker, Verbände und Kommunen, um zu erreichen, dass mehr zum Schutz von Fußgängern und Radfahrern getan wird. „Kerstin soll nicht umsonst gestorben sein“, sagt er. Hartmann fordert den verpflichtenden Einbau von elektronischen Assistenzsystemen in Lastwagen. Mit Kameras oder Ultraschallsensoren erfassen sie die Umgebung und warnen den Fahrer per Signal, wenn ein Rad oder ein Fußgänger neben dem Lkw im „toten Winkel“ ist. Der ist bei einem Sattelschlepper so groß, dass eine komplette Schulklasse darin verschwinden kann – das präsentieren Polizei, Berufsgenossenschaften und Verbände immer wieder bei Verkehrsschulungen.

Der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) behauptet, dass schon eine richtige Einstellung der bis zu sechs Spiegel an einem Lkw dafür sorgen könne, den toten Winkel deutlich zu minimieren. Rüdiger Ostrowski, Geschäftsführer beim Verband Spedition und Logistik NRW, sagt: „Es gibt kein System, das lückenlos den toten Winkel ausschließt. Spiegel, Kameras und elektronische Warnsysteme helfen mit, sind aber technisch teilweise nicht ausgereift und bieten nur eine Scheinsicherheit.“ Für die Lkw-Branche seien Abbiegeunfälle ein großes Problem. „Kein Unternehmen hat ein Interesse daran, dass sein Lkw mit einem so furchtbaren Unfall in der Zeitung abgebildet ist“, sagt Ostrowski.

Interesse an Assistenzsystemen ist groß

Die Kölner Abfallwirtschaftsbetriebe haben nach dem Tod des Siebenjährigen damit angefangen, ihre rund 200 Müllwagen mit teuren Kamerasystemen auszustatten. Die Umrüstung der Flotte soll bis Ende des Jahres abgeschlossen sein. Eine gute Investition, wie Ostrowski findet. Der ADFC NRW fordert neben der Umrüstung kommunaler Lkw-Flotten baulich getrennte Radwege und besser geschützte Kreuzungen. „Wir sind auch für getrennte Rotphasen für Abbieger und für eine Reduzierung des innerstädtischen Lkw-Verkehrs“, sagt Vereinssprecherin Christina Wolff.

Die Bereitschaft, sinnvolle Systeme anzuschaffen, sei bei den Speditionen groß, wie Ostrowski sagt. Und trotzdem würden auch Kameras keine hundertprozentige Sicherheit gewährleisten: „Eine Sattelzugmaschine knickt beim Abbiegen hinten weg, dann sieht der Fahrer auch über die Kamera nur den Auflieger. Der tote Winkel verändert sich dann ja“, sagt er. Die Kamera müsste den Winkel dynamisch abbilden, also die Bewegung des Lastwagens mitmachen. An einer solchen Entwicklung werde aber gearbeitet. Der Verband thematisiert das Thema „toter Winkel“ bei Fahrerschulungen und versucht, die Fahrer zu sensibilisieren.

„Um die traurige Anzahl dieser Unfälle zu verhindern, müssen aber auch Kommunen, Schulen, Eltern, Fußgänger und Radfahrer mithelfen“, sagt Ostrowski. Die Städte müssten Beschilderungen und Durchfahrten eindeutig regeln, Fußgänger und Radfahrer sollten im Zweifel lieber den Lkw vorlassen und anhalten, wenn sie keinen Blickkontakt zum Fahrer haben. Ostrowski will damit den Opfern keine Mitschuld geben, wie er betont. „Aber es gibt bisher noch kein vollständig helfendes technisches Hilfsmittel. Bei jedem Rechtsabbiegen bleibt ein Risiko.“

Trotzdem können die Assistenzsysteme auch jetzt schon eine sinnvolle Unterstützung sein. Im vergangenen Juni hat NRW im Bundesrat für die Bundesratsinitiative der Länder Berlin, Bremen, Brandenburg, Hessen und Thüringen gestimmt, auf europäischer Ebene eine verpflichtende Ausrüstung mit Abbiegeassistenten in Neufahrzeugen umzusetzen, wie eine Sprecherin des NRW-Verkehrsministeriums mitteilt. „Ab Januar 2019 startet ein Förderprogramm des Bundesamts für Güterverkehr“, sagt die Sprecherin. Speditionen, die ihre Lkw auch ohne die gesetzliche Pflicht mit einem Abbiegeassistenten ausstatten, bekommen dann pro Fahrzeug einen Zuschuss von 1500 Euro. Ostrowski ist sicher, dass die Anschaffung der Systeme in den kommenden Jahren Pflicht wird – so wie die Abstandswarner in Lastwagen es heute schon sind.

Bis erste Prototypen in Serie gehen und es ein EU-Gesetz gibt, werden noch einige Jahre vergehen. Und es werden noch mehr schwere Unfälle geschehen. Erst am 8. Januar hat ein Lkw-Fahrer einen Pedelec-Fahrer beim Abbiegen in Köln-Mülheim übersehen. Der 63 Jahre alte Radfahrer überlebte schwer verletzt.

Werner Hartmann hat am 9. April 2013 noch mit seiner Tochter Kerstin telefoniert, bevor sie los radelte, um fürs Abendessen mit ihrem Freund einzukaufen. In einem Brief, den er ihr nach ihrem Tod geschrieben hat, schrieb Hartmann: „Deine Stimme klang so fröhlich.“ 20 Minuten nach dem Telefonat war Kerstin Hartmann tot.

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