Ein Jahr danach in Köln Der Silvesterschock und seine Folgen

Köln · Die Übergriffe auf Frauen in der Silvesternacht 2015 haben das Land verändert. Fünf Menschen sind aufs Dach des Kölner Doms gestiegen und schildern, was sie nach den schockierenden Ereignissen umtreibt. Der Rückblick fällt nicht leicht – vor allem Gewaltopfer Miriam nicht.

Ein Jahr nach der Kölner Silvesternacht
8 Bilder

Ein Jahr nach der Kölner Silvesternacht

8 Bilder
Foto: dpa, ve axs

Die Übergriffe auf Frauen in der Silvesternacht 2015 haben das Land verändert. Fünf Menschen sind aufs Dach des Kölner Doms gestiegen und schildern, was sie nach den schockierenden Ereignissen umtreibt. Der Rückblick fällt nicht leicht — vor allem Gewaltopfer Miriam nicht.

Männerhorden machen Jagd auf Frauen. Zu Füßen des Kölner Doms, vor dem Wahrzeichen der Millionenstadt. Der Gewaltexzess am Hauptbahnhof schockiert weltweit. Bis heute. Auch in anderen deutschen Städten werden Frauen attackiert. Hoch oben auf dem Dach der Kölner Kathedrale schildern nun fünf Menschen, was die Silvesternacht 2015 mit ihnen und mit dem Land gemacht hat. Ein Blick aus der Vogelperspektive. Vom einem der schönsten Orte des Weltkulturerbes — dem Vierungsturm — auf die hässlichen Ereignisse.

Miriam L. schaut nicht gerne vom Dom-Dach hinunter auf den Tatort rund 70 Meter unter ihr. Sie zögert, wirkt nachdenklich. Immer wenn es dunkel wird, macht sich bei ihr dieses mulmige Gefühl breit, sagt sie. "Ich bin früher nie ängstlich gewesen. Aber wenn man eine solche Gewalt erlebt hat und so eine Hilflosigkeit und Ohnmacht — das verändert einen."

Jetzt sieht alles unauffällig aus. Am hellen Tag, mitten in der Woche. Doch Silvester demütigten, beraubten und begrapschten Männer hier Hunderte Mädchen und Frauen, es kam auch zu Vergewaltigungen. "Es fällt mir noch immer schwer, das zu begreifen, diese Tumulte, diese massenhaften entwürdigenden Vorfälle. Und genauso lässt mich die Frage nicht los, warum die Polizei nicht geholfen hat. Ein schlimmes Versagen."

Die 19-Jährige wurde abseits des Domplatzes angegriffen

Die 19-Jährige und ihre Freundin sind nicht direkt am Dom angegriffen worden. Miriam zeigt von hier oben auf den Punkt, wo es geschah. In Köln-Kalk. Zwei U-Bahn-Stationen weiter. "Zwei Männer haben uns von hinten gepackt, am ganzen Körper angefasst. Sie haben uns zu Boden geworfen. Einer hat mich an den Haaren gezogen und auf den Kopf geschlagen." Ihre Freundin blutete aus der Nase, am Knie. Die Männer stemmten sich auf sie. Sie sprachen Arabisch. Miriam schrie. Irgendwann ließen die Täter von ihnen ab. Die Details hat Miriam noch immer im Kopf. Die Angst, vergewaltigt zu werden, mitten in der Stadt, auf einem Gehweg.

Erst am Tag danach nahm die Schülerin den körperlichen Schmerz wahr. Vorher war nur Schock pur. Dann ein weiterer Schlag: die ersten Nachrichten am Neujahrstag über die sexuellen Übergriffe am Hauptbahnhof. Miriam war aufgewühlt. Und die halbe Nation mit ihr.

Die Polizei war überfordert und unterbesetzt

Straftaten in perfider Vorgehensweise, begangen von überwiegend jungen nordafrikanischen und arabischstämmigen Männern, die ihre Opfer einkesselten. Viele Flüchtlinge gehörten zu den Tätern. Die Polizei war überfordert, unterbesetzt. Die Kommunikation unter den eingesetzten Kräften scheiterte fatal. Rund 1200 Anzeigen, in mehr als 500 Fällen wegen einer Sexualstraftat, sind in Köln eingegangen. Doch die Gerichte bringen keine Aufklärung über die Ereignisse. Kürzlich wurde bekannt, dass die Polizei viele Täter laufen lassen muss.

Chronik der Übergriffe in Köln: Die Ereignisse rund um die Silvesternacht
24 Bilder

Die Ereignisse rund um die Silvesternacht in Köln

24 Bilder
Foto: dpa/Markus Boehm

Die Abiturientin fühlt sich von der Polizei im Stich gelassen. "Schon als wir Anzeige erstattet haben, mussten wir uns auf der Wache anhören, wir sollten uns nicht so anstellen." Das Verfahren wurde eingestellt. "Oft kommen mir Männer entgegen, und ich denke, der eine könnte es gewesen sein. Manchmal habe ich das Gefühl, ich werde verfolgt. Vielleicht bin ich schon paranoid." Im Dunkeln ist sie seitdem nicht mehr allein aus dem Haus gegangen. Ihre Eltern fahren sie. Immer. Egal, wie weit es ist oder wie spät. Das Pfefferspray muss mit. Wie kann die Polizei ihr Vertrauen zurückgewinnen? Mehr Präsenz. Mehr Kontrollen. Dauerhaft.

Dass Jürgen Mathies Kölner Polizeipräsident ist, liegt an der Horrornacht. Nordrhein-Westfalens Innenminister Ralf Jäger (SPD) — selbst schwer unter Beschuss — hatte seinen Vorgänger im Januar abberufen. "Es ist eine sehr große Herausforderung. Ich kann nicht versprechen, dass hier nie wieder etwas Schlimmes passiert. Ich kann keine Garantie für hundert Prozent Sicherheit geben. Aber ich kann versprechen, keine Planungsfehler zu machen", sagt Mathies.

Als Jäger ihm den Job anbot, waren die entsetzlichen Bilder erst wenige Tage alt. "Diese eskalierende Gewalt. Dieses Verrohende. Dieses absolute Chaos." Es schmerzt ihn, dass die Polizei den Frauen nicht helfen konnte. Nie wieder solche Szenen, nie wieder ein solches Fiasko. Das ist sein Antrieb. Und seine Aufgabe. Mit bundesweiter Dimension. Innere Sicherheit ist Top-Thema geworden. Im Wahljahr 2017 wird das so bleiben. Das weiß Mathies.

Wie lautet seine Antwort? Soll die Polizei martialisch auftreten? Nein, das ist ihm zuwider. Die Beamten sollen stärker präsent, jederzeit ansprechbar sein, sagt der 56-Jährige. Das "A und O" ist die perfekte Vorbereitung. "Damit wir auch fähig sind, besonders belastende Situationen zu bewältigen." Zum Konzept gehört: früher einschreiten, Grenzen klar aufzeigen, mehr kontrollieren. Verstärkung hat seine Polizei aber nicht bekommen. Mathies hat umgebaut.

Auch eine Folge des Silvester-Desasters: Es gab Zulauf bei Bürgerwehren, die polterten, deutsche Frauen nun auf eigene Faust vor Fremden zu schützen. "Sie wollen vermeintlich Gutes, tatsächlich aber anderen ihre rechte Gesinnung und Hassparolen aufzwängen." Da habe man Druck gemacht, sagt Mathies. "Von denen hören wir nichts mehr." Noch ein Baustein, um wieder mehr Sicherheitsgefühl zu schaffen: verstärkte Razzien gegen "Nafris", gegen die Szene der nordafrikanischen Intensivtäter. Ihre Straßenkriminalität ist stark ins Visier gerückt.

Wie sieht der Plan aus für die Nacht, in der die Welt auf die Domstadt schauen wird? Silvester 2016 wird es einen Mix aus Absperrungen, Kontrollen an neuralgischen Punkten und großem Aufgebot von Sicherheitskräften geben. Zwischen Bahnhof und Dom soll es so sicher wie sonst fast nirgends in Deutschland zugehen. Was erwartet Mathies? "Das ist wie ein Blick in die Kugel. Ich kann nur sagen: Die Polizei ist vorbereitet. Auf alles."

Anna Thurau ist auch deshalb Ärztin geworden, weil sie ein Helfersyndrom hat. Silvester ist ein einschneidendes Erlebnis für die Chirurgin. Einige der bis zu 1500 Männer, die auf dem Bahnhofsplatz randalierten, landeten noch in derselben Nacht bei ihr. Mit blutenden Wunden. Die 28-Jährige war im Nachtdienst eingeteilt, in einem Krankenhaus, nicht weit weg vom Hauptbahnhof. Wen sie da vor sich hatte, wusste Anna erst nicht. "Richtig los ging es um ein Uhr, da kamen Männer teilweise an Tragen gefesselt und in Begleitung von Hundertschaft-Polizisten in unsere Ambulanz. Sie waren wahnsinnig aggressiv, haben getreten, gespuckt."

Die renitenten Patienten hatten stumpfe Verletzungen am Kopf, offene Schnittwunden an Händen, Fingern, Beinen. Von Glasflaschen und Böllern. Manche seien betrunken umgefallen, schildert die Chirurgin.
"Die meisten Verletzungen kamen von Gewaltanwendung. Die müssen sich Gegenstände auf den Kopf geschlagen haben." Einige Patienten schienen in Todespanik zu sein. "Es hörte einfach nicht auf in dieser Nacht.
Wir hatten zeitweise eine Schlange von Rettungswagen vor der Tür."

Die Ärztin behandelte viele der Täter

Es war Doppelbesetzung eingeplant. "Wir haben viel genäht." Fast keiner der Männer sprach oder verstand Deutsch. Kaum einer konnte sich ausweisen. "Wir haben die meisten erst mal unter No Name geführt." Was Anna bis heute fassungslos macht, ist die Aggression gegen ihre Person. Ein blutender Patient schrie permanent. Eine zufällig anwesende Frau mit Kopftuch übersetzte sein Gebrüll: "Allah vergib mir. Ich werde mich von dieser Frau nicht anfassen lassen."

Die ganze Nacht arbeitete Anna durch, funktionierte. Auf dem Heimweg überkamen sie Tränen. Sie brauchte eine Weile, um zu begreifen, als sie später einen TV-Bericht über die sexuellen Übergriffe sah. Ihr Freund formulierte es als Erster: "Anna, das ist krass, du hast die Leute zusammengeflickt, die anderen in der Nacht Schlimmes zugefügt haben."

Die Medizinerin will nicht Richterin spielen. Wie viele Menschen in Deutschland sucht sie Antworten. Und mahnt: "Es gibt in jeder Rasse, jeder Nation oder Religion auch schwarze Schafe. Ob Nordafrikaner, Syrer, Deutsche, Polen oder sonst wer - man darf nie pauschalisieren und eine ganze Menschengruppe verurteilen." Anna ist sicher: "Köln wird sich von den Vorfällen nicht beirren lassen."

Der Deutsch-Marokkaner Abdelkarim könnte äußerlich durchgehen als einer der Täter der Silvesternacht. Als einer der Männer, die man oft nur erahnt auf den verwackelten Bildern vom Bahnhofsvorplatz. Der Comedian weiß, wie es ist, wenn man unter Generalverdacht gerät. Der 35-Jährige — seine Eltern kamen aus Marokko nach Nordrhein-Westfalen, Bielefeld — schlägt auf dem Dom ernste Töne an. Unter Anspielung auf die Wucht, mit der die USA vom Terror getroffen wurden, sagt er: "Silvester, das war definitiv eine Zäsur. Sozusagen unser Nine Eleven. Wir stehen vor einer Bewährungsprobe."

Abdelkarim treibt um: "Werden sich unsere Werte auch in diesen schwierigen Zeiten bewähren, oder gewinnen die Rattenfänger mit ihren Rassentheorien?" Nazis, die fremden- und islamfeindliche Pegida-Bewegung, die AfD — alle missbrauchten Silvester für ihre Propaganda, meint der Muslim. Er gehört zu den Erstunterzeichnern eines Aufrufs gegen die AfD und für ein tolerantes Land. Warum ein solches Statement? "Rechte Parasiten behaupten jetzt, ihre schrecklichen Befürchtungen gegenüber DEN Fremden und DEN Flüchtlingen seien belegt." Und da höre der Spaß auf. "Sippenhaft gibt es nicht."

Abdelkarim fühlt sich als "Deutscher gefangen im Körper eines Grapschers"

Die Politiker der erstarkten AfD lassen den Zwei-Meter-Mann schaudern. "Die sind genauso schlimm wie die Rechtsradikalen. Die Rechtsradikalen zünden das Flüchtlingsheim an. Aber die AfD macht das Feuer klar." Gute Zeiten für Vorurteile und Ressentiments. Sein Umfeld spüre das. Er selbst auch. Provokativ nennt er sich "einen Deutschen gefangen im Körper eines Grapschers".

Während die Republik lange rätselte, ob die Straftaten vorher verabredet waren, steht für den Duisburger fest: "Das war nicht geplant. Silvester sind immer viele Nordafrikaner am Bahnhof. Sie kommen ja nirgendwo rein. Keiner will sich mit denen einlassen und feiern gehen." Und bevor im Flüchtlingsheim die Stimmung kippt, "gehen die eben zum Hauptbahnhof, um auch mal was vom behördenfreien Deutschland mitzukriegen". Es seien diesmal einfach zu viele gewesen. Dann der Alkohol, die überforderte Polizei, die Gruppendynamik. Relativieren will er nichts. "Einige haben extrem eklige Sachen gemacht, die durch nichts zu rechtfertigen sind und für die sie hoffentlich bestraft werden."

Abdelkarim betont, die Übergriffe seien "eindeutig un-islamisch, aber sie werden von den Populisten mit dem Islam begründet". Muslime seien jetzt noch mehr Außenseiter geworden. Der Comedian will optimistisch bleiben. Trotz Hetze, trotz Anschlägen auf Moscheen und Flüchtlingsunterkünfte: "Ich hoffe, die Gesellschaft findet wieder zusammen."

Das Image hat gelitten. "Auf Köln, auf Deutschland, lag erst mal ein dunkler Fleck, keine Frage", sagt RTL-Chefmoderator Peter Kloeppel. Das Versagen des Staates hatte Medien auch in den USA und Großbritannien spekulieren lassen, ob Kanzlerin Angela Merkel ihren Flüchtlingskurs aufgeben muss. Oder gleich ihre gesamte politische Macht. Im Ausland sei die Betrachtung inzwischen wieder "etwas abgewogener" geworden. Die Politik sei aufgewacht, habe reagiert — verschärftes Asylrecht, neues Sexualstrafrecht. Man registriere auch im Ausland die Strafverfolgung und den Umgang mit Flüchtlingen hierzulande ganz genau, beobachtet Kloeppel.

Fast eine Million Ankömmlinge 2015. Das habe Staat und Bevölkerung überfordert. Die Defizite der Integration seien seit Silvester nicht mehr zu übersehen, meint der Nachrichtenmann. Er wirbt dafür, die Ängste der Menschen ernster zu nehmen. "Wer die Sorge äußert, dass wir es nicht schaffen, wer kritische Fragen zur Integration der Flüchtlinge stellt, muss immer den Gegenangriff fürchten, er sitze doch in der rechten Ecke." Es sei aber auch Aufgabe der Medien zu zeigen, wessen Geistes Kind diejenigen sind, die diese Ängste für radikale Zwecke missbrauchen.

Kloeppel (58), der seit fast 25 Jahren die Nachrichtensendung "RTL Aktuell" aus Köln moderiert, sorgt sich wegen eines veränderten Umgangstons. Im Netz verrohe die Debatte. Hass-Kommentare und rassistische Sprüche seien erschreckend. Sieht der mehrfach ausgezeichnete Journalist wachsende Fremdenfeindlichkeit seit Silvester? "In jeder Gesellschaft gibt es einen Prozentsatz von Leuten, die sich von Menschen mit anderem kulturellen Hintergrund bedroht sehen. Das müssen wir leider akzeptieren." Die Medien sollten diese Gruppe aber nicht größer machen, als sie ist.

Abdelkarim will in Bielefeld feiern — oder nach Köln fahren. Jürgen Mathies verbringt die Nacht am Dom und anderen Hotspots. Anna wird mit den Liebsten feiern, zu Hause. Peter Kloeppel will via TV verfolgen, was die RTL-Reporter live berichten. Miriam verkriecht sich nicht, geht mit Freuden aus. Sie wird ihr Pfefferspray dabei haben. Und ihre Eltern werden sie abholen.

(lnw)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort