Niederrhein Wie Kinder durch die Gegend rollten

Niederrhein · Kornelia Heise-Ernst aus Wachtendonk sammelt Puppen- und Stubenwagen. Die Exponate einer Ausstellung in Wankum reichen vom späten 19. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts. Viele Informationen zur Historie.

 Kornelia Heise-Ernst inmitten alter Kinderwagen. Das rote Deckchen im grünen Wagen stammt aus Schloss Sanssouci.

Kornelia Heise-Ernst inmitten alter Kinderwagen. Das rote Deckchen im grünen Wagen stammt aus Schloss Sanssouci.

Foto: Gerhard Seybert

Einige begeisterte Reaktionen hat Kornelia Heise-Ernst schon bekommen. "Ein Nachbar von mir hat auf einen Wagen gezeigt und gerufen: ,Da habe ich damals drin gelegen'", erzählt die Wachtendonkerin. Damals war der Mann längst nicht ausgewachsen, sondern passte bequem in das noch nicht mal einen Meter lange Korbgeflecht, das an einer Wand der Wankumer Dorfstube auf vier Rädern steht. Es ist eines von rund 50 großen und unzähligen kleinen Exponaten der Puppen- und Stubenwagenausstellung, die Kornelia Heise-Ernst für den Geschichtskreis Wankum organisiert hat.

Dieses Sammelgebiet erschloss sich die Wachtendonkerin vor rund einem Jahr ziemlich spontan. Im Internet war die Frau, die schon ziemlich lange Puppenhäuser und das Mobiliar dazu als Hobby hat, auf der Suche nach etwas ganz anderem, als sie das Angebot von 22 Puppenwagen entdeckte. "Als ich das sah, schwebte mir die Ausstellung schon vor." Sie ersteigerte die Wagen, die sich oft in einem ziemlich schäbigen Zustand befanden, und restaurierte sie. "12, 13 Stunden am Tag, auch samstags und sonntags", umreißt sie die Plackerei. Einige Stücke kamen seitdem hinzu. Heike Schröder, eine Freundin aus dem Bastelkreis, sowie Sammlerfreund Jörg Bohn steuerten weitere Ausstellungsstücke bei.

Vom späten 19. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts reicht das Spektrum der Exponate. Auf einige Stücke ist die Sammlerin besonders stolz. Zum Beispiel auf den seltenen Zwillingswagen der Firma Brennabor, der etwa 1900 produziert wurde. Der preußischblaue Holzkorpus ist mit Textilgewebe bespannt. In der Mitte des Bodens befindet sich eine quadratische Vertiefung. "Das ist für die Füßchen", erklärt Kornelia Heise-Ernst. Das heißt: Liegen konnten die beiden Kinder in dem Gefährt nicht, sie mussten schon sitzen können, um die Plätze einander gegenüber einnehmen zu können. Es sei früher aber sowieso nicht üblich gewesen, kleine Kinder mitzunehmen, berichtet die Wachtendonkerin. Sie hat sich nicht damit begnügt, die Transportmittel zu präsentieren, sondern liefert dazu auch noch viele Informationen über die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Zum Beispiel darüber, wie hoch die Kindersterblichkeit Anfang des 19. Jahrhunderts gewesen ist. Ein Drittel der Neugeborenen starb vor dem Erreichen des dritten Lebensjahres.

Einiges erfährt der Besucher über die Herstellerfirmen der Exponate, über Brennabor, Saxonia, Germania, Frankonia. Ernst-Albert Naether erfand in Zeitz Mitte des 19. Jahrhunderts den Kinderwagen, die Stadt in Sachsen-Anhalt entwickelte sich zur Hochburg, gab Tausenden Arbeit. Nach dem Zweiten Weltkrieg machten die Sowjets hier wie überall in ihrem Einflussgebiet die Firma zu einem Volkseigenen Betrieb (VEB), zum VEB Zekiwa (Zeitzer Kinderwagenindustrie). Heise-Ernst: "In der Bundesrepublik hat Neckermann diese Kinderwagen vertrieben." Allerdings ohne Firmenlogo. 1998 wurde Zekiwa abgewickelt.

Babytransport früher und heute - das ist ein weiteres Thema. Von Schubkarren und Bollerwagen bis zu Tragetuch und Rucksack reichen die Methoden. Auch aus heutiger Sicht Kurioses fehlt in der Ausstellung nicht. Eine Polizeiverordnung aus Naumburg von 1897 verrät, dass Kinderwagen einst Nummernschilder haben mussten. Zuwiderhandlung wurde mit einer happigen Geldstrafe von neun Mark oder Gefängnis geahndet.

In einem grünen Puppenwagen von 1900 fallen ein rotes Deckchen und ein rotes Kissen mit Königskronen auf. Da taucht Kornelia Heise-Ernst in ihre eigene Familiengeschichte ein. "Das stammt von Schloss Sanssouci, wo eine Tante Zimmermädchen war. Als der Kaiser ins niederländische Exil musste, durften die Bediensteten sich was mitnehmen, und so landeten die Bezüge auf Umwegen bei mir."

Selbst taucht die 1952 geborene Organisatorin übrigens auch auf - auf einem Schwarz-Weiß-Foto als Baby in einem geschlossenen Wagen. Später kaufte ihre Mutter einen vorne offenen Wagen, in dem auch der jüngere Bruder Platz hatte und der bei der Schwester nicht auf Gegenliebe stieß. "Ich fand den Wagen hässlich."

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort