Kleve-Materborn Straßenkinder

Kleve-Materborn · Weißt Du noch? Unsere Autoren, alle vom Niederrhein, erinnern sich an ihre Jugendjahre auf dem platten Land zwischen Duisburg und Emmerich, zwischen Kleve und Wesel.

 ... und heute mit 49.

... und heute mit 49.

Foto: van Offern Markus

Der Planer unserer Siedlung brauchte für seine Arbeit lediglich ein Lineal. Fünf Straßen gleicher Länge hatte er nebeneinander auf ein freies Feld gezeichnet. Die Häuser versetzt angeordnet. Baufenster, Höhe, Satteldach, rotbrauner Klinker, ein Holzzaun war Vorschrift - alles gleich. Die Garagenzufahrt wurde gern mit Kies genommen. Unterschiede gab es für mich keine. Ich kannte das Innere unseres Hauses und damit auch das der Nachbarn.

 Peter Janssen mit elf Jahren...

Peter Janssen mit elf Jahren...

Foto: Jan/mvo

Es ist eine der typischen Siedlungen der 60er Jahre, als rund um Städte Baugebiete in atemberaubendem Tempo ausgewiesen wurden. In so einem Viertel im Klever Vorort Materborn wuchs ich, Jahrgang 68, auf. Auch für unsere Familie ging es darum, möglichst viel Wohnraum für möglichst wenig Geld zu schaffen.

Das Verhältnis der nahezu ausschließlich jungen Familien untereinander war gut. Auch meine Eltern standen abends mit Nachbarn am Zaun. Man half sich gegenseitig, feierte Feste und nachmittags herrschte dort Ruhe. Für die Familien war es das erste Eigenheim und für mich die Heimat.

Die frühen Jahre meiner Kindheit, an die ich mich seriös erinnern kann, waren die im Kindergarten. Es war ein katholischer, die Erzieherinnen hießen Fräulein und diskutierten selten. Dennoch ging ich gern hin, denn es wurde hauptsächlich gespielt. Auch bei Nieselregen draußen. Ich malte Bilder im Akkord und verteilte sie bei Geburtstagen in der Verwandtschaft. Meine Mutter holte mich um 12 Uhr im Kindergarten ab. Wie alle Eltern musste sie vor dem Eingangstor warten, durfte das Gelände nicht betreten. Erst wenn sie davor stand, wurde das schwere Gitter geöffnet, und ich durfte zu ihr. Ein Ritual in der frühen Phase meiner Kindheit, das sich mir ebenso eingeprägt hat, wie die Struktur, die jede Woche besaß. Werktage liefen bis zum Ende der Grundschulzeit nach einem Muster ab. Beim Mittagessen wurde in Vorfreude auf den Nachmittag dem gut gemeinten Hinweis "langsam Essen und gut kauen" wenig Beachtung geschenkt. Ich wollte raus, die Straße war mein Spielplatz.

Mit den Worten "wenn es dunkel wird, bist du wieder da", wurde ich von Mutter entlassen. Wann die Dunkelheit über Materborn kam, hing auch von Spielständen ab. Auf unbebauten Grundstücken oder frisch geteerten Straßen wurde Fußball gespielt und vor den Duellen wenig einfühlsam aussortiert. Hier lernte man fürs Leben. Beim Wählen der Teams blieben immer ein paar Jungs übrig. Jungs, die bestenfalls irgendwo im Weg standen. Dann hieß es: "Okay, wir nehmen den Dicken, dafür kriegt ihr die Zwillinge."

Passte meine Oma auf mich auf, entließ sie mich mittags beim Öffnen der Haustüre mit den Worten: "Bleib' weg von den flachen Dächern." Sie meinte damit die Blocks, die irgendwann am Rande der Siedlung standen. Meiner Großmutter waren die Menschen fremd, die in Hochhäusern wohnten. Für sie hörte das Wirtschaftswunder und die geordneten Verhältnisse am Ende unserer Straße auf.

Die Nachmittage verbrachte ich mit Udo, Michael, Heiner oder Stefan. So hießen Kinder, die Ende der 60er Jahre geboren wurden. Einige hatten ein Bonanza Fahrrad und fast alle einen Bundeswehrparka. Waren wir auf den Straßen unterwegs, stand dort einmal am Tag Frau Schneider. Wir sollten für sie bei Centra einkaufen. Centra war der einzige Supermarkt in der Gegend. Auf etwa 200 Quadratmetern Verkaufsfläche fand man alles, was man brauchte. Frau Schneider brauchte fünf Flaschen Wicküler Pilsener und zwei Schachteln Ernte 23. Im Laden packte ich die 0,5-Liter-Flaschen in den Korb und die Packungen Zigaretten obendrauf. Jeder meiner Freunde, egal wie alt, konnte damals Bier und Zigaretten kaufen - auch Schnaps ging problemlos über die Ladentheke, allein mit dem Hinweis "aber gut aufpassen". Als ich den Korb bei Frau Schneider abgab, erklärte sie, Pils und Zigaretten seien für die Handwerker: "Die kommen gleich." Am nächsten Tag kamen sie wieder.

Gekämpft wurde nachmittags ebenfalls - und auch Gefangene gemacht. Für Indianer hatte ich besonders viel übrig. Cowboy wollte nie einer sein. Größere Sorgen machten sich meine Eltern nicht, wenn ich draußen unterwegs war. Ob auf dem Feld, im Wald oder nur ein paar Straßen weiter - oft wusste stundenlang niemand, wo wir uns aufhielten.

So geordnet, wie sich Straßenbild und Wochenablauf darstellten, war auch der Rest meiner Kindheit. An Werktagen draußen unterwegs, gehörte das Wochenende der Familie, wie mir meine Mutter erklärte. Sonntags wurde sich nicht verabredet. Dann waren wir im Reichswald unterwegs, fuhren zur Tante nach Weeze oder zum Patenonkel nach Kamp-Lintfort. Mein Onkel war Pfarrer - und auch die Kirche gab dem Jahresverlauf Struktur. Einmal in der Woche war der Besuch im Haus des Herrn Pflicht. Mehr als ein Jahrzehnt konnte ich mich auch darauf verlassen, wie und wo die Hochfeste gefeiert wurden. Jedes Weihnachtsfest verlief wie das vorherige. Heiligabend im Kreise der Familie, 1. Weihnachtstag bei Oma und Opa Kleve, 2. Weihnachtstag mit Tanten und Onkeln.

Was sich im Laufe von Kindheit und Jugend hingegen stets änderte, waren meine Vorbilder. Das erste war mein Großvater. Ein Spätheimkehrer, den kaum etwas aus dem Gleichgewicht bringen konnte. Regelmäßig übernachtete ich am Wochenende bei meinen Großeltern. Sonntags ging es erst zum Gottesdienst und nach dem Segen nahm mich mein Opa mit zum Frühschoppen. Prägende, weil spannende Erfahrungen, habe ich hier gesammelt. So war etwa Coca-Cola trinken erlaubt und das nahezu ohne Mengenvorgabe. Die Skatbrüder meines Opas steckten mir Markstücke zu. Ich sollte am Spielautomaten mein Glück versuchen. Da ich nicht an den Geldeinwurf kam, halfen mir stets ein paar umherstehende Zocker. Die Altersbeschränkung, die auf dem Gerät stand, wurde von ihnen eher als freundliche Empfehlung angesehen. Tief durchatmen war kaum möglich. Männer, die mit Schlagseite unterwegs waren, qualmten unterarmdicke Zigarren. Die Stimmung war immer blendend. Bewährte Gassenhauer dröhnten aus den übersteuerten Lautsprechern der Musikbox. Wenig erfreut über die Länge des Kneipenbesuchs war Oma. Die Sonntagssuppe war verkocht.

Erst als es zur "höheren Schule" ging, kam dezente Unordnung in den Wochenverlauf. Schuld daran war auch der Sport. Viermal in der Woche Training. Wettkämpfe am Wochenende und dazu samstags oder mittwochabends die Fahrten mit meinem Vater zum Bökelberg. Es war eine Zeit, in der es regelmäßig auch nach den Spielen der Gladbacher noch etwas zu Feiern gab. Spannend war es bereits vor dem Spiel. Wenn man an schlachterprobten Anhängern beider Mannschaften vorbei musste. Die für ihre lockere Faust bekannten Fans verabredeten sich vor der Partie zu Duellen. Der Hooligan-Kalauer "Das Wetter ist schlecht, die Steine fliegen tief" galt schon damals.

Für 99 Pfennig Eintritt gab es die ersten Kontakte zu gleichaltrigen Frauen. Zunächst im Jugendheim, dann in sogenannten Saalbetrieben und schließlich in der Disco. In Kleve gingen die Popper ins Atlantis. Ich auch - mit einer Matte, mit der man heute Schwierigkeiten hätte, Einlass in eine Dorfdisco zu bekommen. Für die zehn Mark am Eingang des Atlantis' gab es ein Freigetränk obendrauf. Bier wurde hier nicht getrunken. Campari Orange war mein Favorit. Nicht, weil der schmeckte, er sah extrem gut aus im Neonlicht. Zum Abschluss der Phase in Tanzpalästen war regelmäßig das "Pink Palace" in Essen unser Ziel. Hier wurde zu den Titeln von The Cure, Depeche Mode oder Anne Clarke die Jugend beendet. Für mich war es eine Zeit, die vielleicht zu wenig Raum für Überraschungen ließ, in der ich mich aber gut aufgehoben und zuhause fühlte. Ich lebe hier immer noch gern. Wohl auch aus dem einem Grund, den Schriftsteller Frank Goosen treffend formulierte: Woanders weiß man selber, wer man ist, hier wissen es die anderen. Das ist Heimat.

Peter Janssen ist Redakteur in der Lokalredaktion Kleve.

(jan)
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