Frauen im Maßregelvollzug Psychiatrie statt Knast

Bedburg-Hau · Die Zahl der psychisch kranken Straftäterinnen ist gering. In psychiatrischen Krankenhäusern sollen sie so lange therapiert werden, bis sie keine Gefahr mehr für die Allgemeinheit darstellen. Ein Besuch bei der einzigen Fachklinik im Rheinland.

 Das Haus 28 in der LVR-Klinik in Bedburg-Hau.

Das Haus 28 in der LVR-Klinik in Bedburg-Hau.

Foto: Evers, Gottfried

Es wollte einfach nicht aufhören zu schreien. Als Sandra nach neun Monaten Schwangerschaft ihr Neugeborenes mit nach Hause nimmt, sollte sie eigentlich vor Glück strahlen. Stattdessen verschlechtert sich der Zustand der jungen Mutter zunehmend. Sandra weiß sich nicht zu helfen, gibt ihrem Neugeborenen die Schuld. Sie leidet unter Verfolgungswahn, hört Stimmen, die ihr befehlen, dem Kind etwas anzutun. Freitagabend, das Kind will nicht einschlafen. Die Stimmen im Kopf werden immer lauter. Dann drückt die Mutter zu.

"Der größte Teil der Frauen, die zu uns kommen, leidet unter einer Psychose", sagt Dr. Rudolf Schlabbers, Leiter der Forensik II in der LVR-Klinik in Bedburg-Hau am Niederrhein. "Kindestötung während eines psychotischen Schubs ist da nur ein Beispiel." Schlabbers sitzt am schweren Schreibtisch seines Büros in einem roten Backsteinhaus. Es ist eines von vielen Gebäuden auf dem weitläufigen Klinikgelände. Seit 1912 werden hier Patienten betreut, viele der denkmalgeschützten Häuser stammen noch aus der Gründungszeit.

Einzigartige Einrichtung

Haus 28, Station 5. Hier behandeln der Arzt und sein Team Frauen, für die die Klinik in Bedburg-Hau oftmals der letzte Ausweg ist. Sie sind psychisch krank und straffällig, ein Gericht hat für sie die Unterbringung in ein psychiatrisches Krankenhaus nach Paragraph 63 des Strafgesetzbuchs angeordnet. Nicht wenige von ihnen haben schon unzählige Therapien hinter sich gebracht. Frauen, bei denen die Justiz davon ausgeht, dass sie aufgrund ihrer Krankheit eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellen. 87 Patientinnen befinden sich hier im Maßregelvollzug — es ist die einzige Abteilung ihrer Art im Rheinland.

Auch Fälle, die bundesweit für Schlagzeilen gesorgt haben, landen in der niederrheinischen Provinz. Wie Adelheid Streidel, die am 25. April 1990 das Attentat auf Oskar Lafontaine verübte. Wie lange die Patienten in der Klinik bleiben, hängt vom Behandlungserfolg ab: Der Gesetzgeber sieht bei den sogenannten "63ern" keine Höchstdauer der Behandlung vor. "Die Gerichte entlassen die Patienten, wenn von ihnen keine offensichtliche Gefahr mehr für die Gesellschaft ausgeht", sagt Schlabbers. In Bedburg-Hau sind das im Schnitt 8,5 Jahre. Manche bleiben für Jahrzehnte. Streidel wurde nach knapp 25 Jahren entlassen. "Frauen sind unter den Patienten in der deutlichen Minderheit", sagt Diplom-Psychologin Renate Molak. So auch in Bedburg-Hau: Nur etwas mehr als fünf Prozent der "63er" sind weiblich.

"Wir sind Vorreiter auf unserem Gebiet, die Akzeptanz hier in Bedburg-Hau ist sehr groß. Dafür kann man nur dankbar sein", sagt Molak. Einfach ist es trotzdem nicht: Der Personalschlüssel ist genauso knapp wie in anderen Abteilungen, der Gebäudetrakt, in dem man sich eingerichtet hat, ist veraltet. "Patientinnen müssen zum Teil in Vierbettzimmern schlafen", sagt die Psychologin. Ein neues Bettenhaus ist zwar bereits in Planung. Bis das steht, können aber noch einige Jahre vergehen.

Über 60 Prozent leiden an Psychosen

Ein in der Zeitschrift "Recht und Psychiatrie" veröffentlichter Erfahrungsbericht aus dem Jahr 2013 zeigt, wie unterschiedlich die Diagnosen bei Patientinnen in Bedburg-Hau verteilt sind. Mehr als 60 Prozent der Frauen litten demnach unter Schizophrenie oder wahnhaften Störungen, gefolgt von Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (21 Prozent) sowie Intelligenzstörung (elf Prozent). "Gerade die klassische Persönlichkeitsstörung findet man deutlich seltener als bei Männern", sagt Schlabbers.

Bei den Borderline-Persönlichkeitsstörungen scheinen die Patientinnen deutlich anfälliger zu sein. "Hier haben wir es oft mit unsicheren Persönlichkeiten zu tun, die sich abhängig von anderen machen", sagt Schlabbers. Und: Viele der Patientinnen haben in ihrer Vergangenheit Erfahrung mit sexueller Gewalt gemacht. Während aktuellen Studien der EU-Grundrechte-Agentur zufolge ein Drittel aller EU-Bürgerinnen bereits Opfer sexueller Gewalt geworden ist, liegt die Quote unter den Patientinnen im psychiatrischen Krankenhaus noch einmal deutlich höher. "So ein Erlebnis kann für die Frauen traumatisch sein", sagt Renate Molak. Posttraumatische Persönlichkeitsstörungen sind die Folge.

Dabei komme es auch immer wieder zu Hilferufen - etwa durch Selbstverletzungen. Ernsthafte Suizidversuche seien bei weiblichen Patienten aber sehr selten.

Die Betroffenen sind meistens jung

Bei den Psychosen, die den Großteil der Diagnosen ausmachen, liegen die Ursachen nicht selten im Dunkeln. "In der Regel sind Frauen zwischen 20 und 30 Jahren betroffen. Die ersten Anzeichen zeigen sich aber schon etwa fünf Jahre vor dem ersten psychotischen Schub", sagt Rudolf Schlabbers. "Für die Betroffenen verändert sich plötzlich die Welt. Man fängt an, alles auf sich zu beziehen, wird ganz feinfühlig", erklärt Renate Molak. Wenn die Patientinnen in Bedburg-Hau landen, hat sich ihr Krankheitsbild also häufig schon über Jahre ausgeprägt.

Die begangenen Straftaten, für die die Frauen vor Gericht landen, sind in der Regel die gleichen wie bei Männern: Körperverletzung, Tötungsdelikte, Brandstiftung. "Nur Sexualdelikte fallen bei den Frauen weg", sagt Renate Molak. "Die Opfer sind bei Frauen häufig in der Familie zu suchen. Meist richtet sich ihre Gewalt gegen die eigenen Kinder oder den Lebenspartner", erklärt die Psychologin.

Frauen unter sich

Die Therapie findet in Gruppen statt, wird von Kreativtherapeuten und Psychologen begleitet. In der Anfangszeit bleiben die Frauen dabei unter sich. So können sie sich öffnen, traumatische Erlebnisse besser verarbeiten. Später ist eine Behandlung in Gruppen beider Geschlechter möglich, auch Wohnheime, in denen Männer wie Frauen untergebracht sind, gibt es in Bedburg-Hau. Bei psychotisch erkrankten Frauen ist die medikamentöse Behandlung wesentlicher Bestandteil. "Während der Therapie reflektieren die Frauen dann, was ihrem Opfer — etwa dem eigenen Kind — angetan haben. Das kann ein sehr kritischer Moment sein", sagt Renate Molak. Zur Therapie gehören vor allem im späteren Verlauf aber auch die Vorbereitung auf das Leben nach der Klinik und intensive Gespräche mit der Familie. Wenn nach der geschlossenen die offene Behandlung anschlägt, können die Frauen beurlaubt und schließlich sogar vom Gericht entlassen werden.

"Eine hundertprozentige Sicherheit gibt es nie", sagt Rudolf Schlabbers. Dementsprechend komme es auch zu Krankheitsrückfällen nach der Klinikzeit. "Einen Deliktrückfall hat es in den zehn Jahren unseres Bestehens aber nicht gegeben", sagt der Arzt.

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