Roman von Leenders Die Leiden der jungen Annemarie

Kleve · Hiltrud Leenders Roman „Pfaffs Hof“ ist beim Rowohlt-Verlag als Taschenbuch erschienen. Er erzählt ein Stück Kindheit in den frühen 1960er Jahren am Niederrhein. Das Buch ist ab jetzt im Buchhandel.

 Hiltrud Leenders bei einer Lesung 2013.

Hiltrud Leenders bei einer Lesung 2013.

Foto: Gottfried Evers

Es ist eine Geschichte aus der Zeit, als noch nicht gegen den Schah protestiert wurde sondern der Herrscher der Perser, wie es damals in der Regenbogenpresse hieß, mit der schönen Soraya verheiratet war, als Kilius und Bäumler auf dem Eis die Wirtschaftswunder-Deutschen verzauberten und man sich einrichtete in der Bundesrepublik. Eine Geschichte aus der Zeit, als Deutschland noch dachte, man könne das Dritte Reich einfach vergessen und nur nach vorne schauen.

Annemarie heißt das kleine Mädchen, das bald einen Bruder bekommt, und das einen älteren Bruder hat, der sich mit seinem Vater überworfen hat und nicht mehr nach Hause darf. Ein klassischer Vater-Sohn-Konflikt mit Dritte-Reich-Hintergrund - aber das erfährt man eher nur zwischen den Zeilen.

Hiltrud Leenders konzentriert sich in ihrem neuen Roman auf einen kleinen Ausschnitt im Leben der Annemarie, die ihren Bruder Dirk bekommt und während der Geburt fürchterliche Angst um ihre Mutter hat, die ja „tot gehen könnte“. Annemarie muss neben dem Vater schlafen, der nachts wohl seinen Krieg verarbeitet und immer schwitzt. Es ist der Krieg, der in vielen der Gespräche mitschwingt, ausgesprochen und unausgesprochen. Und sie muss den ständigen Streit der Eheleute ertragen - denn ihre Mutter verzeiht dem Vater nicht die Vergangenheit und schon gar nicht den Rauswurf des ältesten Sohnes.

Das Mädchen ist mit seinen Eltern auf „Pfaffs Hof“ gezogen. Das Haus, das dem Roman den Namen gibt. Vorstellen kann man sich den Hof nicht. Leenders vermeidet es, Bilder in ihrem Buch zu erzeugen. Die Sprache ist einfach, schmucklos, manchmal auch sehr reduziert. Als wolle sie die Armut auf dem Hof widerspiegeln, das triste Leben, das nur von einigen Ausflügen und vom Besuch von Tante und Opa aufgehellt wird.

 Still, beiläufig erzählt Hiltrud Leenders von der Emanzipation eines kleinen Mädchens am Niederrhein, das sich immer mehr Gedanken über die Gespräche macht, besser - über den Inhalt der Gepräche, der nicht ausgesprochen wird. Darüber, was mit ihrer Tante passiert, darüber, dass man doch sehr wohl darüber reden sollte, wenn ältere Herren kleinen Mädchen zu nahe kommen, und darüber, dass man sich mit der Nazi-Zeit auseinandersetzen muss.

Dennoch steht das Buch nicht nur beispielhaft für die Erinnerungen, die die wie Annemarie Mitte der 1950er-Jahre Geborenen haben. Es ist schon speziell niederrheinisch, erzählt von den Dörfern, die für Flüchtlinge in den Wald gebaut werden, eines für die evangelischen, eines für die katholischen. Es erzählt davon, dass katholische Kinder „Mama und Papa“ sagen, während evangelische „Mutti und Vati“ bevorzugen würden.

„Pfaffs Hof“ erzählt auch von der Sprache, die hier gesprochen wird, von den Menschen, von der Anstalt, vom Gefängnis, wo Annemaries Vater arbeitet. Und vom wachsenden Wohlstand, der auch nötig ist, damit die Eltern die höhere Schule, das Mädchengymnsium, bezahlen können, auf die Annemarie in den letzten Kapiteln wechselt. Über 200 Mark für Bücher und Hefte muss die Mutter für die kleine Annemarie aufbringen. Ein Schock. Und doch - vor allem der Vater setzt sich für die Kleine ein. Es war eben keine Selbstverständlichkeit, aufs Gymnasium zu gehen. Und dort auch den Beruf der Eltern angeben zu müssen, Justizvollzugsbeamter schreiben zu müssen, wo andere Direktor schreiben.

Daneben kämpft Annemarie auch mit körperlichen Leiden - mit ihren Zahnschmerzen, mit ihren Bauchschmerzen. Sie ist zu dünn, isst nichts und lässt sich auch nicht zwingen, zu essen. Ein scheinbar schwaches Mädchen, das am Ende doch umso stärker dasteht.

Hiltrud Leenders. Pfaffs Hof. rororo, 10.99 Euro, ISBN 978-3-499-27371-1

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