Ethikprofessor Jean-Pierre Wils Nach BGV-Urteil: Wie selbstbestimmt darf Sterben sein?

Interview | Kleve · Der an der Radboud in Nimwegen lehrende Professor für Ethik und Kulturphilosophie Jean-Pierre Wils hat ein Buch über den Suizid geschrieben: „Sich den Tod geben. Suizid als letzte Emanzipation?“ Wir sprachen mit dem Autor.

 Jean-Pierre Wils: Wir sprachen in seinem Haus in Kranenburg mit dem Philosophen über sein neuestes Buch, das sich mit dem selbstbestimmten Tod befasst.

Jean-Pierre Wils: Wir sprachen in seinem Haus in Kranenburg mit dem Philosophen über sein neuestes Buch, das sich mit dem selbstbestimmten Tod befasst.

Foto: Markus van Offern (mvo)

Herr Wils, das Urteil des BVG, das Selbsttötung ohne materielle Kriterien zulässt, hat zu einer heftigen Debatte in der Republik geführt. Jetzt liegt ihr spannender Band zum Thema vor - als weiterer Schritt einer ganze Reihe von Veröffentlichungen, in denen Sie sich mit dem Sterben und dem Umgang damit auseinandersetzen.

Jean-Pierre Wils Das Thema ist ja nicht erst jetzt von Interesse. Man hat 20 bis 30 Jahre lang diese Diskussion mühsam zurückgehalten. Das BVG-Urteil, das in seiner Radikalität alle überrascht hat, ist also nicht Ursache, sondern erneut ein Anlass, sich mit dem Thema zu befassen – vor allem auch mit Blick auf die Entwicklungen in den Benelux-Ländern und der Schweiz.

Müssen wir in Deutschland mit Blick auf unsere Geschichte und das Dritte Reich nicht sehr vorsichtig mit diesem Thema umgehen?

Wils Lange, vor allem in den 1980er und 1990er Jahren, reichte in Deutschland der Verweis auf die Euthanasie, auf die fürchterliche T-4-Aktion der Nationalsozialisten, der auch die Menschen aus der Landesklinik in Bedburg-Hau zum Opfer fielen, um die Diskussion über die assistierte Selbsttötung zu blockieren. Aber wir dürfen uns nicht dahinter verschanzen. Diese Euthanasie war Mord.

Die Kirchen und Teile der Ärzteschaft sperren sich gegen das selbstbestimmte Sterben.

Wils Ein Teil der Ärzteschaft sieht das als Verstoß gegen ihren Schwur. Aber das ist nur ein Teil. Und auch wenn die Kirchen lange eine Liberalisierung bekämpft haben – sie waren aus diesem Grunde zunächst ja noch in den 1970er und 1980er Jahren gegen die Palliativ-Medizin und die Hospiz-Bewegung als möglicher Teil einer Sterbehilfe-Liberalisierung  – wird das Thema auch in den Kirchen kontrovers diskutiert. Die Juristen in Deutschland waren da schon weiter. Trotzdem blieben auch im Recht paradoxe Situationen: Eine Assistenz zur Selbsttötung war nicht verboten, konnte aber sofort als  unterlassene Hilfeleistung gewertet werden. Jetzt hingegen haben wir das Urteil, das sich allein auf die Autonomie des Menschen beruft, materielle Kriterien ausschaltet und nur noch eine neutrale Beratungsprozedur dazwischen schaltet. Wobei die Berater nicht einmal Ärzte sein müssen.

Sie schreiben in ihrem Buch, dass es nach einem autonomen, selbstbestimmten Leben auch den selbstbestimmten Tod geben darf. Trotzdem liest man da auch eine gewisse Skepsis.

Wils Wir habe da eine Crux: Wenn die materiellen Kriterien – also eine schwere Erkrankung beispielsweise – ausgeschlossen wird, dann bleibt nur die Autonomie der Person, die ihr Leben beenden kann, wenn sie nicht mehr leben möchte. Sie hätte damit ein Recht auf Suizid-Beihilfe.

Sie warnen in ihrem Buch davor, dass dieses Recht zur Suizid-Beihilfe nicht als Normalität empfunden werden dürfe. Denn das wäre ein sehr bedenklicher Schritt.

Wils Das Sterben ist ein letzter furchtbarer Akt und der Suizid darf keine Normalität, keine normale Option werden. Vor allem nicht, wenn sich daraus ein Druck entstehen würde, diese Option auch zu ergreifen. Es darf nicht dazu führen, dass man irgendwann das Leben begründen muss. Auch in den Niederlanden diskutiert man darüber, ob man von Kriterien wie beispielsweise ein aussichtsloses Leiden abrücken soll. Da gibt es auch einen Gesetzentwurf der vorsieht, dass man erst ab einem gewissen Alter, hier ist die Rede von 75 Jahren, auch wenn keinerlei medizinisch qualifizierbare Leiden vorliegen, aus Gründen des Lebensüberdrusses Suizid-Beihilfe in Anspruch nehmen dürfe.

Das BVG-Urteil lässt eine Altersbeschränkung offen.

Wils Nach dem Urteil des BVG bedeutet das im Grunde, dass jeder ab 18 Jahre eine solche Entscheidung gegen sein Leben treffen kann – vielleicht auch früher. Aber da wird es mir Angst und Bange, wenn ich daran denke, dass es zur Pubertät gehören sollte, über Suizid nachdenken zu dürfen. Es wird Wege geben müssen, da eine andere Lösung zu finden. Zusätzlich muss man Foren im Internet im Auge haben, die Menschen in den Suizid führen. Solche Lagen gilt es zu vermeiden - es darf eben keine Normalität sein und es darf keine Pflicht geben, über den selbstbestimmten Suizid nachdenken zu müssen.

Die katholische Kirche stellt sich wohl weiter dagegen.

Wils Die Kirchen haben das recht, zu sagen, wir verweigern uns: Denn wer glaubt, wer auf Gott vertraut, muss das auch dürfen. Da können die Kirchen ein Gegengewicht bilden. Es muss ja auch zurückhaltende Stimmen geben. Obwohl inzwischen auch in den Kirchen Mehrheiten für eine Liberalisierung zu finden sind.

Sie persönlich befürworten aber letztlich, autonom und selbstbestimmt aus dem Leben scheiden zu dürfen. Sie schreiben im Zusammenhang mit den antiken römischen Philosophen Seneca oder Cicero von der „Souveränität über das eigne Sterben“, die der Mensch hat.

Wils Diese Souveränität muss man haben dürfen. Aber: Ich möchte nicht in einer Gesellschaft, in einer Atmosphäre leben müssen, wo man begründen muss, dass man noch da ist. Das darf nicht zu irgendeinem Zwang, zu einem gesellschaftlichen oder ökonomischen Druck werden.

Sie plädieren also für das Urteil des BVG zu einem autonomen Sterben unter der Voraussetzung, dass das Urteil des BVG sehr gewissenhaft präzisiert wird?

Wils So kann man das sagen.

Danke für das Gespräch.

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