Inklusion in Kleve Voll am Leben teilnehmen

Kleve · Die 27-jährige Sarah ist seit ihrer Geburt körperlich und geistig eingeschränkt. 2018 zog sie in ihre erste eigene Wohnung. Uns gab die Kleverin Einblicke in ihr Leben. Auch beim Tag der Inklusion am 15. Juni ist sie dabei.

 Das Leben im Rollstuhl meistert die 27 Jahre alte in der Nachbarstadt Goch geborene Kleverin Sarah trotz ihrer körperlichen wie geistigen Einschränkungen, erzählt sie vor dem Aktionstag am Samstag. Im Hintergrund lächelt  Nadine Brüker, Sozialpädagogin der KoKoBe.

Das Leben im Rollstuhl meistert die 27 Jahre alte in der Nachbarstadt Goch geborene Kleverin Sarah trotz ihrer körperlichen wie geistigen Einschränkungen, erzählt sie vor dem Aktionstag am Samstag. Im Hintergrund lächelt  Nadine Brüker, Sozialpädagogin der KoKoBe.

Foto: Markus van Offern (mvo)

Welches Bild hat man vor Augen, wenn man an Menschen mit Behinderung denkt? „Viele glauben, dass Menschen mit Einschränkung den ganzen Tag herumsabbern“, sagt Nadine Brüker, Sozialpädagogin der Kokobe (Koordinierung, Kontakt, Beratung) Kreis Kleve. Doch diese Vorstellung, da ist sie sich sicher, habe mit der Realität nichts zu tun. „Häufig können diese Menschen sehr viel selbst, benötigen aber in einigen Lebensbereichen Hilfe“, sagt Brüker. Das beste Beispiel: die 27-jährige Sarah. Ihren Nachnamen möchte sie nicht in der Zeitung lesen, über ihren Lebensweg aber sehr wohl erzählen. Schriftlich hat sie unserer Redaktion versichert, dass wir über diesen scheiben dürfen. Unterschrieben ist der Brief mit ihrem Fingerabdruck. „Man muss sich zu helfen wissen“, sagt sie. Denn seit ihrer Geburt ist Sarah eingeschränkt, sehr viel stärker körperlich als geistig. „Ich führe dennoch ein fast normales Leben“, sagt Sarah.

Wer sich mit ihr unterhält, lernt eine lebensfrohe und aufmerksame Frau kennen. Gelegentlich braucht es ein wenig Geduld. Die gebürtige Gocherin hat mit Spastik zu kämpfen, die auch ihre Mundwinkel zusammenzucken lässt. Einen Atemzug oder einen Schluck Wasser später aber legt sie wieder los. Im vergangenen Jahr äußerte Sarah einen Wunsch: Sie wolle aus dem Elternhaus ausziehen. Zuvor war auch schon ihre jüngere Schwester zum Studium verzogen. „Ich wollte in eine eigene Wohnung, so wie alle anderen auch“, sagt Sarah. Doch so einfach ist das nicht. „Es gibt da viele behördliche, rechtliche und praktische Hürden, die Menschen mit Einschränkung überwinden müssen“, sagt Brüker.

Sie hörte von dem Wunsch Sarahs und setzte sich gleich mit ihr in Verbindung. Die LVR-Einrichtung Kokobe berät, wie Menschen mit Beeinträchtigung wohnen, arbeiten und ihre Freizeit gestalten können. „Und wir führen sie durch den deutschen Behörden-Dschungel“, sagt Brüker. Dass sie in diesem Beruf gelandet ist, sei kein Zufall. Immerhin habe auch Brüker ob einer schweren Diabetes-Erkrankung einen Behindertenausweis. „Ich kann mich sehr gut in die Situation dieser Menschen hineinversetzen und habe das tiefe Verlangen, ihnen zu helfen“, erklärt sie. Die Kokobe feiert in diesem Jahr ihren 15. Geburtstag und will diesen nicht nur zum Feiern nutzen. „Wir wollen auf die Straße und den Menschen erlebbar machen, was es heißt, mit einer Beeinträchtigung voll am Leben teilzunehmen“, sagt Brüker. So wird sie und ihr Team beim Klever Aktionstag zur Gleichstellung am 15. Juni auf der Herzogbrücke stehen, und ihre Arbeit erklären. Auch Sarah wird dann von ihrem Lebensweg berichten. Immerhin seien noch immer Barrieren abzubauen – praktische und psychische.

Als sie sich im vergangenen Jahr an Brüker wandte, standen große Veränderungen vor ihr. Nicht nur die beschwerliche Suche nach einer barrierefreien Wohnung. „Ich musste zum Chef werden“, sagt sie. Vom Staat erhält die 27-Jährige das sogenannte „Persönliche Budget“, über das sie selbst verfügen muss und mit dem sie ihre Lebensbegleiter finanziert. Aktuell hat sie acht Mitarbeiter, darunter sind Alltagsassistenten, Pflegerinnen oder Sozialpädagogen. Diese kochen, putzen, waschen und beraten die junge Frau. „Manchmal komme ich beim Zählen der Mitarbeiter ein wenig durcheinander. Aber ich bin zufrieden mit meinen Angestellten“, sagt Sarah. Sie müsse für diese Verantwortung übernehmen, sie loben, rügen oder für Ersatz sorgen. Bisher aber klappe das gut. Ihr Lebensrhythmus ist streng durchgetaktet. Um acht Uhr steht Sarah auf, dann wartet eine Pflegerin auf sie. Am Wochenende kommt diese erst um 9 Uhr. „Ich will ja auch einmal ausschlafen“, sagt Sarah. Normalerweise muss sie dann zur Arbeit, in die Werkstatt des LVR. Doch aktuell ist sie krankgeschrieben, sie leide unter psychischen Problemen. Der Grund: Geistige Willenskraft und körperliche Tatkraft stehen aktuell nicht im Gleichgewicht. Sie wolle mehr anpacken, doch ihre Spastik hindert sie. „Ansonsten überwache ich vor allem meine Kollegen“, sagt Sarah scherzhaft. Frei nach dem Motto: Einmal Chef, immer Chef.

Beinahe täglich besucht Sarah die Physiotherapie, doch die Muskelkrämpfe lassen nicht nach. „Daher sage ich immer: Die Mitarbeiter sind meine Füße und Arme, mein Kopf bin ich selbst.“ Ihre Lebensfreude verliert sie nicht. Stattdessen ist sie zuletzt eine Meisterin darin geworden, ihre Freizeit zu gestalten. Sie verbringe ihre Zeit gerne im Garten. Doch es gibt einen Mann, der lockt die Wahl-Kleverin immer wieder ins Haus und vor den Fernseher: TV-Koch Steffen Henssler. „Ich bin ein großer Fan von ihm. Er ist einfach immer so witzig. Bald fahre ich zu einer Show von ihm nach Magdeburg“, sagt sie. Und damit nicht genug: Sarah trägt ein Autogramm von Henssler als Tattoo auf ihrem linken Arm, auf dem rechten erstrahlt ein Bild der amerikanischen Sängerin Miley Cyrus farbenfroh. Wenn Sarah über ihre Idole spricht, dann mit breitem Grinsen und euphorischer Stimme. „Sarah weiß immer sehr genau, was sie will und äußert das auch“, sagt Brüker.

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