Die Kinderarzt-Kolumne Noten? Ja, aber…

Kleve · Ein paar Tintenkleckse auf dem Zeugnis sind ja gut und schön, meint unser Autor, aber sie geben lediglich eine Orientierungshilfe über relative Stärken und Schwächen des Kindes – nicht mehr und nicht weniger.

 Dr. Wolfgang Brüninghaus kann kaum glauben, unter welchen unglaublichen Leistungsdruck manche Eltern sich selbst und ihre Kinder setzen.

Dr. Wolfgang Brüninghaus kann kaum glauben, unter welchen unglaublichen Leistungsdruck manche Eltern sich selbst und ihre Kinder setzen.

Foto: Brüninghaus

Ich war erst wenige Jahre in meiner Praxis, als mir eine Mutter ihr Kind vorstellte mit den Worten: „Ich möchte gerne ein ärztliches Attest haben, dass unser Junge erst nächstes Jahr eingeschult wird!“ Ich fragte nach Entwicklungsproblemen, untersuchte das Kind nach bestem Wissen, fand aber keinen Hinweis auf irgendeine Störung. „Wenn er ein Jahr später eingeschult wird, hat er einen leichteren Start in der Grundschule und kann später auch bestimmt auf das Gymnasium“, lautete die Begründung der Mutter für ihren Wunsch.

Nachdem ich meinen Unterkiefer wieder hochgeklappt hatte, habe ich versucht, die Mutter zu überzeugen, dass auch eine Unterforderung keine günstige Prognose für das Leistungsverhalten und den schulischen Erfolg eines Kindes bedeutet. Ich habe diese Mutter nie wieder gesehen, aber diese Szene hat mir vor Augen geführt, unter welchen unglaublichen Leistungsdruck manche Eltern sich selbst und ihre Kinder stellen. Nun stehen wieder Zeugnisse vor der Tür, und in vielen Familien werden die Noten ein besonderes Gewicht bei der Frage haben, ob das Kind die Wünsche, Erwartungen und Projektionen seiner Eltern erfüllt.

Dabei ist die Notenvergabe für die Lehrer noch nie so knifflig und unsicher gewesen, wie in diesem Corona-Jahr, mit so viel Unterrichtsausfall und Improvisationsmaßnahmen, sowohl auf Seiten der Eltern wie auch der Lehrer.  Da wird viel vom Einfühlungsvermögen des Lehrers/der Lehrerin abhängen: Wird die bessere Note das Kind stärker motivieren oder wird die schlechtere Note mehr Leistungswillen auslösen? Da werden manche Eltern wohl wieder Anwälte bemühen, wenn sie die Benotung ihres Augensterns für ungerecht ansehen.

Damit geben sie den Noten letztlich aber ein völlig unangemessenes Gewicht. Für seine Lebensperspektiven sind doch das Wissen und die Leistungsbereitschaft eines Kindes viel wichtiger, als ein paar Tintenkleckse auf einem Zeugnis (Abi- oder Abschlusszeugnisse mögen da etwas kritischer zu sehen sein). Es gehört übrigens auch die Fähigkeit, andere Menschen (zum Beispiel Lehrer/-innen, Vorgesetzte) von den eigenen Qualitäten zu überzeugen oder auch mal ein als ungerecht empfundenes Urteil zu verkraften, zu einem später erfolgreichen Leben. Wenn Eltern dann sofort mit dem Anwalt in der Schule anrücken, geben sie ihrem Kind ein klares Signal, dass sie ihm (und sich selbst) keinerlei Lösungskompetenz zur Zusammenarbeit mit den Lehrer/-Innen zutrauen. Ein starkes Kind braucht keinen Rechtsanwalt, und ein schwaches Kind wird durch derartige Interventionen nur noch schwächer.

Ich vermisse in diesem Problemkreis übrigens die eigentlich selbstverständliche Unterstützung für die Lehrer durch ihren Dienstherren. Wie sollen die Eltern der Fachkompetenz der Lehrer trauen, wenn die eigenen Vorgesetzten sich wegducken, sobald etwas Rückgrat gefordert ist. Also, liebe Eltern, wenn Ihr Kind mit dem Zeugnis kommt, dann nehmen Sie es bitte zuerst in den Arm, ehe Sie auf die Noten schauen. Zeigen Sie ihm deutlich, dass Ihr Respekt, Ihre Zuneigung und Ihre bedingungslose Unterstützung nicht von seinen Schulnoten abhängig sind. So geben Sie dem Zeugnis die Wertigkeit, die ihm zukommt: ein Überblick über den Leistungsstand, eine Orientierungshilfe über relative Stärken und Schwächen Ihres Kindes – nicht mehr und nicht weniger.

Wolfgang Brüninghaus war als Kinder- und Jugendarzt in Kleve tätig und schreibt an dieser Stelle alle paar Wochen von seinem Beruf. Foto: Brüninghaus

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