Mädchen aus Kevelaer hat seltenen Gendefekt „Pia hat eine unglaubliche Art, mit der Krankheit umzugehen“

Kevelaer · Pia ist zehn, lebt mit ihrer Familie in Kevelaer und ist an Morbus Alexander erkrankt. Über diesen äußerst seltenen Gendefekt ist so gut wie nichts bekannt. Ihre Mutter Melanie Rogmann (49) möchte das ändern und hat sich uns anvertraut.

 Die zehn Jahre alte Pia mit ihrer Mutter Melanie Rogmann und Hund Abby.

Die zehn Jahre alte Pia mit ihrer Mutter Melanie Rogmann und Hund Abby.

Foto: Evers, Gottfried (eve)

Pia ist kerngesund zur Welt gekommen. Geboren wurde sie im Geburtshaus in Geldern. Bei ihren älteren Geschwistern Sina und Tom hatte das leider nicht geklappt. Bei Pia hingegen lief alles nach Wunsch. Sie war von Anfang an ein zierliches Kind, aber sie ist gewachsen, hat zugenommen, vielleicht etwas langsamer als ihre Geschwister, aber kein Grund, sich Sorgen zu machen. Als Pia etwa anderthalb war, fiel mir auf, dass sie sehr lange fürs Essen benötigte. Manchmal ist sie beim Essen eingeschlafen. Außerdem war sie sehr wählerisch, hat sich schnell vor Sachen geekelt. Unser Kinderarzt meinte, das sei normal. Er fand mich hysterisch. Abgesehen vom Essen schien alles andere normal zu sein. Ich versuchte, mich zu beruhigen. Pia war aufgeweckt und noch dazu eine Sportskanone. Sie lernte Laufen, Schwimmen, Skifahren und Radfahren. Sie redete wie ein Wasserfall.

Als sie vier oder fünf war, machte ihr das Essen zunehmend zu schaffen. Einerseits liebte sie geröstetes Weißbrot mit Aioli, andererseits musste sie sich öfter grundlos übergeben. Es gab keine Regelmäßigkeiten. Morgens wachte sie auf und sagte: ,Mama, mir ist schlecht.‘ Unser Kinderarzt überwies sie nach Krefeld in die Kinderendokrinologie, um herauszufinden, ob mit ihren Hormonen alles in Ordnung war. Später fiel der Verdacht auf Zöliakie, eine Unverträglichkeit gegen den Klebereiweiß Gluten. Aber Pia klagte nie über Bauchschmerzen. Ihre Blutwerte waren unauffällig. Gegen Ende der Kindergartenzeit wurde Pia immer weniger.

In den anschließenden Sommerferien sind wir mit der ganzen Familie nach Mallorca geflogen. Wir waren alle total entspannt. Auch Pia. Ich dachte, vielleicht braucht sie nur etwas Ruhe und Zeit. Doch als wir zurück in Deutschland waren, wurde alles noch schlimmer. In der Schule war sie schnell erschöpft. Sie schaffte es nicht einmal, ihren Schultornister zu tragen, weil er ihr zu schwer war. Ihr größter Wunsch war es, Lesen und Schreiben zu lernen, doch die Schule strengte sie nur an. Pia wirkte hilflos. Morgens klammerte sie sich an uns. Es war eine schwierige Zeit.

Nach ihrem siebten Geburtstag wurde es von Tag zu Tag schlimmer. Ich wurde zum Teil von Fremden angesprochen, was mit meiner Tochter los sei. Wir haben dann auf eigene Faust in der Uniklinik in Bonn angerufen und sind bei Professor Janbernd Kirschner vom Sozialpädiatrischen Zentrum gelandet. Er hat einige Untersuchungen gemacht. Irgendwann rief er an und sagte, dass beim MRT eine Auffälligkeit gefunden wurde. Die weiße Hirnsubstanz sei bei Pia verändert. Er empfahl uns, eine Genanalyse zu machen. Er meinte, wenn sie etwas finden, würde die Krankenkasse die Kosten übernehmen. Andererseits würden wir auf den 6000 Euro sitzen bleiben. Wir haben uns dazu entschieden, den Test machen zu lassen. Er erklärte uns das so: ,Stellen Sie sich vor, Sie stehen in einer Bibliothek und suchen nach einem Buch, das sie nicht kennen, um eine Seite zu finden, auf der ein Fehler versteckt ist.’

Diese Krankheiten sind extrem selten
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Foto: AP

Am 11. Mai 2020, ein Montag, fuhren wir zu dritt nach Bonn. Pia schickte er in ein anderes Zimmer. Ich hatte große Angst. Dann teilte er uns mit, dass sie an einem Gendefekt namens Morbus Alexander leidet. Eine extrem seltene Erkrankung, die eine Leukodystrophie auslöst. Bei Morbus Alexander ist das GFAP-Gen fehlerhaft, was dazu führt, dass die Myelin-Schicht, die unsere Nervenzellen umgibt, verklumpt. Vereinfacht ausgedrückt, ist dadurch die Signalübertragung zwischen den Nerven gestört. Bei Pia sind vor allem die Nervenbahnen gestört, die zu den Muskeln führen. Nur einer von 2,7 Millionen Menschen ist betroffen. Viele Kinder, bei denen die Krankheit im ersten Lebensjahr auftritt, erleben ihren sechsten Geburtstag nicht mehr.

Professor Kirschner sagt, er mache sich Sorgen. Morbus Alexander sei eine Krankheit mit einem progredienten Verlauf. Es geht eigentlich nur bergab. Ich war wie gelähmt. Als wir wieder zu Hause waren, hat sich Pia im Schneidersitz vor uns hingesetzt und gefragt: ,Mama, muss ich jetzt sterben?‘ Ich habe ihr gesagt: „Du musst jetzt nicht sterben.‘ Aber die Diagnose hat mich monatelang gelähmt. Jeder Gang vor die Tür war wie ein Spießrutenlauf. Ich wollte nicht, dass mich andere bemitleiden. Das Komische war, dass wir in dieser Zeit als Familie noch enger zusammengerückt sind. Pia hat eine unglaubliche Art, mit der Krankheit umzugehen. Sie weiß, dass sie früher Dinge konnte, die sie heute nicht mehr kann. Trotzdem lebt sie voll im Hier und Jetzt.

Wir haben uns dann einen neuen Kinderarzt gesucht und haben Pia zur Physiotherapie und Logopädie angemeldet. Es musste ja irgendwie weitergehen. Ich weiß noch, es war ein kühler Tag. In unserem Garten stand der Pool. Ich bin reingesprungen, und weil das Wasser so kalt war, habe ich beim Auftauchen nach Luft geschnappt. Es war der erste Tag nach der Diagnose, an dem ich endlich wieder atmen konnte.

Unser Leben hat sich seitdem komplett verändert. Pia ist mittlerweile auf einen Rollstuhl angewiesen. Zu Hause hat sie einen Therapiestuhl, weil sie nicht alleine sitzen kann. Außerdem hat sie eine Magensonde. Pia ist jetzt zehn Jahre alt, 1,16 Meter groß und wiegt 16 Kilo. Dank Logopädie konnte ihre Kau- und Schluckmotorik wiederhergestellt werden, was an ein Wunder grenzt. Wir machen weiter, fahren zusammen in Urlaub, besuchen Freunde. Ich lasse nur noch Menschen in mein Leben, die mir guttun. Die Krankheit ist so selten, dass niemand weiß, was kommt. Genau das macht mir Hoffnung.

Meine älteste Tochter Sina musste vor Kurzem für die Schule eine Hausarbeit in Biologie schreiben. Sie hat sich für das Thema „Genmutationen“ entschieden. Und ehrlich gesagt, spielt es überhaupt keine Rolle, welche Note sie dafür bekommt. In meinen Augen war das ihre Art, das alles zu verarbeiten. Deshalb ist es für mich einfach nur gelungen.

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