Die Kinderarzt-Kolumne Inklusion – (k)ein einfaches Thema

Kleve · Inklusion ist ein lohnendes Ziel, aber gewiss nicht einfach zu erreichen. Bei der Frage, welche Schulform für ein Kind mit Entwicklungsstörungen richtig ist, sollten sich Eltern rechtzeitig mit ihrer Kinderärztin/ihrem Kinderarzt beraten.

Dr. Wolfgang Brüninghaus arbeitete als Kinder- und Jugendarzt in Kleve.

Dr. Wolfgang Brüninghaus arbeitete als Kinder- und Jugendarzt in Kleve.

Foto: Brüninghaus

Kürzlich traf ich eine Freundin, deren inzwischen erwachsene Kinder ich viele Jahre lang betreut habe. Als ich erzählte, dass ich über Inklusion schreiben wollte, waren wir schnell in ein Gespräch vertieft. Ihr erster Sohn, ich nenne ihn Tom, hatte nach seiner komplizierten Geburt eine sehr schwere Zeit. Viele Monate musste er in der Kinderklinik bleiben, und als ich seine ambulante Betreuung übernahm, hatte er eine Krankenakte, die sich beinahe wie ein Lehrbuch über Intensivmedizin bei Neugeborenen liest.

Der Kampf ums Überleben war gewonnen, aber nun kamen jede Menge Sorgen um Folgeschäden in der körperlichen und geistigen Entwicklung hinterher. Damals gab es die Inklusionsdebatte noch nicht, sodass nur eine Förderschule infrage kam. In unserem Gespräch sieht die Mutter das heute auch in der Rückschau als die richtige Entscheidung.

Heute sind die Möglichkeiten einer inklusiven Beschulung vom Gesetzgeber wesentlich erweitert worden, leider allerdings, ohne bei den Schulen flächendeckend die dafür notwendigen personellen und räumlichen Voraussetzungen zu schaffen. So habe ich oft erlebt, dass die inklusive Förderung in der Regelschule schlichtweg aus Personalmangel nicht ausreichend für den Unterstützungsbedarf des Kindes war.

Meist ist die Schulentscheidung eine knifflige Abwägung. Ist Inklusion unter den aktuellen Bedingungen die optimale Lösung, wenn ein Kind in einer ungestörten 1:1-Situation recht gut mitarbeiten kann, mit 24 Kindern drumherum aber von so vielen Reizen überfordert wird, dass konzentriertes Arbeiten unmöglich ist?

Bei der Frage, welche Schulform für ein Kind mit Entwicklungsstörungen richtig ist, sollten sich Eltern rechtzeitig mit ihrer Kinderärztin/ihrem Kinderarzt beraten. Besteht nur eine Verzögerung der Entwicklung mit einer reellen Chance, wenn auch verspätet, ein ganz normales Leistungsvermögen zu erreichen? Oder gibt es Hinweise auf tiefergehende Beeinträchtigungen, die auch bei intensiver Förderung keine „normale Entwicklung“ für dieses Kind erwarten lassen?

Es gehört sicher zu den größten Herausforderungen für die Eltern von Kindern mit Entwicklungsrisiken, Erwartungen und Hoffnungen für die Zukunft ihres Kindes offen und sachlich zu erwägen, notfalls auch Illusionen als solche zu erkennen. So einfach diese Frage klingt, so oft ist sie zum Zeitpunkt der Einschulung noch nicht sicher zu beantworten. Dann muss unter Umständen die Überprüfung der Lernfähigkeit wiederholt werden, wenn zum Beispiel unerwartete Veränderungen erkennbar werden. Es kann auch nicht ausschließlich um die kognitive Lernfähigkeit gehen. Auch die Fähigkeit des Kindes, sich in einer größeren Gruppe zurechtzufinden, schnelle Situationswechsel zu verarbeiten und Regeln angemessen zu beachten, sind nach meiner Ansicht Voraussetzungen dafür, dass eine integrative Beschulung im Sinne des Kindes erfolgreich verlaufen kann, zumindest unter den aktuellen Bedingungen.

Eine optimale Fördersituation für das Kind zu finden, realistische Ziele zu setzen, die das Kind fordern, aber eben auch nicht überfordern, ist ein Balanceakt, für den eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Kinderarzt, evtuell auch anderen Institutionen wie der Frühförderstelle oder dem Sozialpädiatrischen Zentrum sowie den behandelnden Therapeuten und letztlich auch der Schule erforderlich ist. Angesichts des oft wechselhaften Verlaufs der Entwicklung eines Kindes wird es eher selten gelingen, sofort die Ideallinie zu finden. Immer bedarf es einer aufmerksamen Begleitung, um im Zweifel auch Entscheidungen zu revidieren.

Inklusion ist ein lohnendes Ziel, aber es ist gewiss nicht einfach zu erreichen.

Wolfgang Brüninghaus war als Kinder- und Jugendarzt in Kleve tätig und schreibt an dieser Stelle alle paar Wochen von seinem Beruf. Foto: Brüninghaus

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