Die Kinderarzt-Kolumne Lesen Sie doch mal wieder vor!
Kleve · Bücher sind viel besser als Handy- oder Computerspiele, ist unser Autor überzeugt und spricht von einem nachhaltigen Lerneffekt. Hinzu komme eine gehörige Portion Nähe und Gemütlichkeit.
Es ist schon ein paar Jahre her, dass ich meiner Enkelin ihr Lieblingsbuch vom Grüffelo vorlesen sollte. Das Buch ist nicht sehr lang, und am Ende hörte ich ein sehr bestimmtes „Noch mal!“. Nach dem vierten Durchgang ging meine Motivation aber langsam gegen Null. Da sprang ihr Bruder, damals fünf Jahre alt, mir zur Seite: „Lass mal, Opa, ich lese jetzt mal für Dich.“ Nanu, dachte ich, der kleine Kerl ist noch nicht in der Schule und kann schon lesen? So saßen wir nun zu dritt auf dem Sofa, und mein Enkel „las“ das Buch, das heißt, er deklamierte es auswendig für seine kleine Schwester. Ich hatte meinen besonderen Spaß dabei, denn er imitierte meine Stimmlage und sämtliche Betonungen täuschend echt.
Oft musste ich an diese Geschichte denken, wenn ich in der Praxis miterlebte, wie Eltern ihren Kindern allzu bereitwillig das Handy in die Hand drückten. Dann wurde irgendein vermeintlich spannendes Spiel angestellt, das Kind drückte fortan irgendwelche Knöpfe, und die Eltern hatten ihre Ruhe. Ich habe dann gern ein Bilderbuch zur Hand genommen und versucht, den Eltern zu erklären, warum ein Bilderbuch nachhaltiger als jedes Handyspiel ist. Handy- und PC-Spiele sind zumeist darauf ausgerichtet, in kürzesten Zeitabständen immer neue Impulse zu setzen, das Kind wird ständig zu neuen stereotypen Handlungen (Taste drücken) gedrängt, verliert dabei aber jede eigene Kontrolle und Initiative. Oft genug schirmt es sich völlig ab, ohne irgendetwas zu verstehen oder gar zu lernen.
Wie anders ist der Umgang mit einem (Bilder-)Buch. Das fängt schon bei der Auswahl des Titels an. Dann kann das Kind sein eigenes Tempo bestimmen, kann zurückblättern, wenn es sich noch einmal vergewissern will, wie die Erzählung des Buches abläuft. Man kann ein Buch aber auch unterbrechen, ohne etwas zu verpassen, es vermittelt keinen Zeitdruck, sondern Ruhe und duldet auch problemlos, einmal bei Seite gelegt zu werden, etwa, wenn ein Freund zum Spielen kommt. So behält das Kind immer die Initiative und kann „sein“ Buch im besten Sinne „in Besitz nehmen“. Wie wir bei meinem Enkel sehen konnten, kann es soweit führen, dass es schließlich das ganze Buch auswendig kennt. Ich würde das nachhaltiges Lernen nennen. Wenn ein Buch dann auch noch vorgelesen wird, kommt noch eine gehörige Portion Nähe und Gemütlichkeit dazu. Angekuschelt hört das Kind die Stimme von Mama oder Papa, die nun keine Ermahnungen oder Anweisungen verteilt, sondern einfach nur der Fantasie des Buches folgt und Freude schenken will.
Ich wünsche allen unseren Kindern, möglichst viele solcher wunderbaren Erinnerungen speichern zu können, mit ein bisschen Glück halten sie ein ganzes Leben.
Wolfgang Brüninghaus war als Kinder- und Jugendarzt in Kleve tätig und schreibt an dieser Stelle alle paar Wochen von seinem Beruf. Foto: Brüninghaus