Die Kinderarzt-Kolumne Corona – und kein Ende in Sicht

Kleve · Menschen neigen dazu, Gefahren, denen sie über einen längeren Zeitraum ausgesetzt sind, zunehmend zu verdrängen. Unser Kolumnist warnt jedoch davor, die Corona-Pandemie zu ignorieren.

 Der Enkel von Dr. Wolfgang Brüninghaus muss schon zum zweiten Mal auf eine größere Geburtstagsfeier verzichten.

Der Enkel von Dr. Wolfgang Brüninghaus muss schon zum zweiten Mal auf eine größere Geburtstagsfeier verzichten.

Foto: Brüninghaus

„Ich will die ganze Kindergartengruppe einladen“, ruft mein Enkel, als wir über seinen bevorstehenden sechsten Geburtstag telefonieren. Angesichts der anhaltenden Corona-Einschränkungen wird es aber wohl schon sein zweiter Geburtstag werden, bei dem er auf viele Freunde verzichten muss. Aber seine Sehnsucht nach mehr Kontakten ist nicht zu überhören.

Uns Erwachsenen geht es ja kaum anders. Die teils reichlich verunglückten aktuellen Statements einiger Filmschauspieler müssen wohl als Signal der zunehmend aufgebrauchten Geduld auch bei den Erwachsenen gesehen werden. Dazu haben die Entscheidungsträger auch ihren Teil beigetragen, indem sie die entscheidungsrelevanten Grenzwerte für die Inzidenz selbst immer wieder „passend“ gemacht haben. Um einschneidende Entscheidungen zu umgehen, werden so inzwischen Inzidenzen hingenommen, die gut viermal so hoch sind wie jene, die noch vor einem Jahr für vernünftig gehalten wurden.

Aber die Zwickmühlen zwischen mathematischen Modellen, wirtschaftlichen Konsequenzen und Entscheidungszwängen unter großen Unsicherheiten stellen die Politiker vor enorme Herausforderungen. Kein Wunder, dass es reichlich Schlaumeier gibt, die es dann hinterher alles besser gewusst haben. Allerdings wurde ganz sicher der Zeitfaktor unterschätzt.

Wir Menschen neigen schließlich dazu, Gefahren, denen wir über einen längeren Zeitraum ausgesetzt sind, zunehmend zu verdrängen. Anders ist nicht erklärbar, dass die Hänge des Vesuv – Pompeji zum Trotz – immer noch besiedelt sind. Millionen rauchen, unbeeindruckt von den auch ihnen bekannten Risiken und jährlich sterben mehrere tausend Menschen im Straßenverkehr, über deren Leid kaum noch eine Schlagzeile verloren wird. Über die Jahrzehnte haben wir uns eben an diese Gefahren gewöhnt und rauchen und fahren trotzdem munter weiter. So fällt es uns allen zunehmend schwerer, die Disziplin für die anhaltenden Coronabeschränkungen weiterhin aufzubringen.

Die oft inkonsequenten Entscheidungen der Politiker, ihre offensichtlichen Versuche, sich in und an der Krise zu profilieren, haben diesen Effekt noch verstärkt, indem härtere, aber rascher wirkende Entscheidungen immer wieder verschoben wurden. Aber die Impfung ist als Licht am Ende des Tunnels immerhin sichtbar und kann uns hoffentlich weiter motivieren, gegenüber den nur allzu verlockenden Verdrängungstendenzen, unseren Verstand noch einige Zeit eingeschaltet zu lassen. Die furchtbaren Bilder aus Indien zeigen, wie gnadenlos die Krankheit um sich greift, wenn man versucht, sie zu ignorieren.

So lange es Länder gibt, in denen sich die Seuche ungehemmt ausbreiten kann – mögen sie auch am anderen Ende der Welt liegen – bleiben auch wir immer weiter in Gefahr, unsere eben gewonnene Sicherheit durch neue Mutanten sofort wieder zu verlieren. Wir brauchen also auf jeden Fall noch einen langen Atem, sicher weit über den Zeitpunkt der weitgehenden Durchimpfung bei uns hinaus.

Wolfgang Brüninghaus war als Kinder- und Jugendarzt in Kleve tätig und schreibt an dieser Stelle alle paar Wochen von seinem Beruf. Foto: Brüninghaus

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort
Integration auf Abstand
Ehemaliger Lehrer aus Geldern gibt Familie aus der Türkei Deutschunterricht Integration auf Abstand