Die Kinderarzt-Kolumne Ist Karl May nun out?

Meinung | Kleve · Früher hat Karl May in unserem Auto das Interesse an der Geschichte der USA ausgelöst, schreibt er. Und daraufhin hat er sich mit der nötigen Distanz mit Karl May beschäftigt. Das muss man den Kindern heutzutage auch zutrauen.

 Dr. Wolfgang Brüninghaus, Kinder- und Jugendarzt aus Kleve

Dr. Wolfgang Brüninghaus, Kinder- und Jugendarzt aus Kleve

Foto: Brüninghaus

Nun ist ein Kinderbuch nach Motiven von Karl May vom Markt genommen worden, weil der moralische Druck auf den Verlag offenbar zu groß geworden war. Eigentlich war ich bisher davon ausgegangen, dass bei uns die Freiheit des Wortes sehr weitreichend geschützt ist. Immerhin darf man hierzulande Putin als lupenreinen Demokraten bezeichnen, ungeachtet der Empfindungen der zahlreichen Opfer seiner Politik, auch schon lange vor der Invasion der Ukraine.

Ausgerechnet Karl May soll nun die Grenze der Erträglichkeit überschreiten? Dabei bin ich mir in meiner Erinnerung sehr sicher, dass ich seinerzeit als Zwölfjähriger durchaus schon erkannt habe, dass die Figuren und Geschichten Karl Mays fiktiv waren und die Wirklichkeit der Besetzung Nordamerikas durch die „Weißen“ nicht geschichtsgetreu geschildert wurde.

Aber das Bewusstsein, dass in seinen Büchern eben nur eine einseitige und oberflächliche Darstellung enthalten war, hat mich dazu veranlasst, Interesse an der geschichtlichen Wahrheit dahinter zu entwickeln. So entstand eine Aufmerksamkeit für alternative Berichte über jene Zeit. Und schließlich entwickelte sich auf diesem Wege eine distanzierte eigene Position und nicht zuletzt das Bewusstsein, dass jedes Buch, jedes Bild, alle Musik nur im Kontext ihrer Zeit beurteilt werden darf.

Einer Belehrung von außen bedurfte es dafür nicht, und auch heute noch nehme ich das Recht in Anspruch, über die teils skurrilen Einfälle Karl Mays zu schmunzeln.

Wenn stereotype und scherenschnitthafte Darstellungen in Literatur und Kunst nicht mehr „zeitgemäß“ sind, müssen wir dann auch Homer und seine Ilias aus der Liste der Weltliteratur streichen, weil darin Morden und Brandschatzen, Heimtücke und Betrug intensiv mit der Vorstellung von Heldentum verwoben sind? Darf ich mich für Mozarts Zauberflöte nicht mehr begeistern, weil darin jede Menge Stereotypen und Vorurteile enthalten sind, die heute längst als obsolet erkannt wurden? Die Überspitzungen und Vereinfachungen waren sicher auch zu Mozarts Zeiten bereits offensichtlich, ihre Berechtigung erhielten sie schon damals nicht aus ihrem Wahrheitsgehalt, sondern als Lieferanten von Hintergrundmotiven für die wunderbare Musik.

Wenn Karl May zu fern der Realität ist, wie sollen wir denn dann Pippi Langstrumpf bewerten? Auch in Astrid Lindgrens Geschichten wird die Realität teils absurd verändert. Aber die Fantasie ist derart übersteigert, dass jedes Kind erkennt, dass Pippis Überlegenheit über die Erwachsenen eben nicht der Wirklichkeit entspricht. Aus diesen Absurditäten ergeben sich aber jede Menge Impulse für die Kinder, sich kritisch mit der Welt der Erwachsenen auseinanderzusetzen.

Wie wenig Denkimpulse setzen im Vergleich dazu die heutigen Helden unserer Kinder? Paw Patrol, Star Wars, Superman und so weiter – in den Kinderzimmern meiner Enkel stehe ich ganzen Scharen von Monstern, Drachen, Ninjas und Laserschwertträgern gegenüber, die bei mir regelmäßig albtraumhafte Bilder auslösen und kaum etwas anderes vermitteln als grenzenlose Gewaltfantasien. Sie setzen keinerlei Reize, die Schilderungen und Figuren zu hinterfragen (zum Beispiel durch Verknüpfung mit anderen Quellen), Orientierungspunkte für eigenes Handeln zu entwickeln oder gar eine eigene und kritisch distanzierte Position zu finden. Offenbar wird unseren Kindern keinerlei Kompetenz in diesem so wichtigen Bereich zugetraut.

Karl Mays Geschichten könnten dazu doch eine – wenn auch nicht ideale – Übungsvorlage sein. Ich mache mir jedenfalls viel mehr Sorgen über die Verbreitung von mit Horrorbildern gespickten Kindergeschichten, die wie Fastfood sind für die Gehirne unserer Kinder als über Winnetou und Old Shatterhand.

Wolfgang Brüninghaus war als Kinder- und Jugendarzt in Kleve tätig und schreibt an dieser Stelle alle paar Wochen von seinem Beruf.
Foto: Brüninghaus

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