Kalkar Die gespaltene Bewegung

Kalkar · Seit 35 Jahren ist Gottfried Evers Fotograf der Klever RP. In einer Serie werden jeden Samstag Aufnahmen von 1977 veröffentlicht. Das Thema heute: Die große Demonstration gegen den Schnellen Brüter in Kalkar, die am 24. September stattfand und an der 30 000 Kernkraftgegner teilnahmen.

 Verdächtiger im Parka.

Verdächtiger im Parka.

Foto: Evers, Gottfried

Die Republik war nervös. Am 5. September 1977 war Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer entführt worden. Fünf Monate zuvor hatten Mitglieder der Rote Armee Fraktion Generalbundesanwalt Siegfried Buback in Karlsruhe ermordet. Post-Filialen wurden mit Plakaten bestückt, auf denen reichlich Porträts abgebildet waren. Am Ende war der Aushang mit dem Hinweis versehen: "Vorsicht Schusswaffen!"

 Auf der Wiese von Bauer Maas: Beste Sicht auf das kritisierte Bauwerk.

Auf der Wiese von Bauer Maas: Beste Sicht auf das kritisierte Bauwerk.

Foto: Evers, Gottfried

Die Gefahr durch extremistische Organisationen wirkte sich entscheidend auf die Demonstration gegen den Schnellen Brüter in Kalkar aus. Mit 30 000 Kernkraftgegnern sollte es die größte Kundgebung gegen Atomkraft in der Bundesrepublik werden.

 Mit Plakaten demonstrierten die Gegner in Kalkar.

Mit Plakaten demonstrierten die Gegner in Kalkar.

Foto: Evers, Gottfried

Ein neues Zauberwort für ein linkes Weltbild lautete damals: Umweltschutz. Zehntausende reisten zunächst nach Brokdorf, um dort gegen den Bau des Atomkraftwerks zu demonstrieren. Einsatzbefehle von aggressiv fliegenden BGS-Hubschraubern in Kombination mit dramaturgischen Szenen an eisigen Wassergräben forcierten die Ideologie vom "Schweinestaat" und den "Scheißbullen".

 Potenzielle Unruhestifter in Käfer, Ente und R 4 – wer nach Kalkar wollte, musste auspacken.

Potenzielle Unruhestifter in Käfer, Ente und R 4 – wer nach Kalkar wollte, musste auspacken.

Foto: Evers, Gottfried

Die Angst vor dem 24. September 1977, es war ein Samstag, als der im Vorfeld propagierte "Sturm auf Kalkar" stattfinden sollte, versetzte nicht nur die Bürger der Nicolaistadt in Furcht. Das drohende Chaos versuchte man durch die Konzentration von Polizisten und Bundesgrenzschützern zu verhindern. 8000 Beamte wurden aus fünf Bundesländern, es gab damals nur zehn, zusammengetrommelt, um die Brüter-Baustelle zu sichern.

 Der Geist des Widerstands vereinte sie: 30 000 Demonstranten versammelten sich in Kalkar zur ersten Kundgebung gegen den Schnellen Brüter.

Der Geist des Widerstands vereinte sie: 30 000 Demonstranten versammelten sich in Kalkar zur ersten Kundgebung gegen den Schnellen Brüter.

Foto: Gottfried Evers

Denn als ein Ziel wurde die "Besetzung des Bauplatzes" von Aktivisten ausgegeben, die es nicht bei Gitarren-Protest und engagierten Wortbeiträgen, wie man sie von Fernsehpredigern kennt, belassen wollten. Die Hoffnung auf eine Demonstration aus der Serie "Lagerleben mit Picknick-Charakter" wurde im Vorfeld zerstört.

 Der Umsturz: Mit vereinten Kräften wurde der Sandcontainer umgeworfen.

Der Umsturz: Mit vereinten Kräften wurde der Sandcontainer umgeworfen.

Foto: Evers, Gottfried

Bei der Kundgebung auf dem Kalkarer Marktplatz gab es bereits vor 35 Jahren einige visionäre Wortbeiträge. Die Sonne schien und ein Redner kippte den Kopf gen Himmel und sprach davon, dass dort oben die Energiequelle der Zukunft zu sehen sei. Einer, der als Zukunftsforscher Karriere machte und zu den Demonstranten sprach, war Robert Jungk. Sein Buch "Der Atom-Staat" begann er mit dem Hinweis: "Atome für den Frieden" unterscheiden sich prinzipiell nicht von "Atomen für den Krieg".

 Kein Durchkommen: Die geballte Staatsmacht macht Eindruck.

Kein Durchkommen: Die geballte Staatsmacht macht Eindruck.

Foto: Evers, Gottfried

Im Vorfeld der Demo verging kaum ein Tag, an dem nicht neue Horrormeldungen an die Öffentlichkeit drangen. Tenor der Nachrichten: weitere militante Gruppen würden in Kalkar auftauchen oder hätten sich bereits auf den Weg an den Niederrhein gemacht. Der Staat reagierte auf die angekündigten Reisen der Szene und kontrollierte bereits Tage zuvor in allen Teilen der Bundesrepublik an Grenzübergängen und größeren Bahnhöfen. In München, Hamburg, Stuttgart oder Frankfurt wurde das Gepäck der Demonstranten ebenso durchsucht wie auf den Landstraßen, die Richtung Kalkar führten. Der damalige Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen, Burkhard Hirsch (FDP), verkündete vor der Demo stolz, man habe bereits 40 000 Aktivisten überprüft. Hirsch wollte die "Spreu vom Weizen trennen". So wurden etwa am Grenzübergang Aachen sechs Busladungen französischer Demonstranten abgewiesen. Nachdem man waffenähnliche Gegenstände bei ihnen gefunden hatte, wurden sie an der Einreise gehindert. Mit Steinen schmeißend versuchten sie sich vergebens den Weg in die Bundesrepublik freizukämpfen. Höhepunkt der Kontrollen war eine filmreife Szene, die sich beim Stopp eines Zuges ereignete. Auf freiem Feld wurde dieser einen Kilometer vor der Bahnstation Kalkar angehalten. Eine Hundertschaft der Polizei war mit Hubschraubern an die Bahnlinie gebracht worden. Die Polizei ließ alle Reisenden aussteigen und durchsuchte die Waggons. Ein Hinweis, dass in diesem Zug 250 bis unter die Zähne bewaffnete Demonstranten sitzen sollten, führte zu dem Einsatz. Gefunden wurde nichts.

Die Diskussion über die Gewalt gehörte zur Szene wie die Suche nach dem Gleichgewicht. Wie "militant" sollte oder durfte man sein? Nur mit Helmen und Handschuhen und Kneifzange gegen Stacheldraht vorgehen? Oder auch Knüppel, Eisenstangen oder besser Molotow-Cocktails gegen die geschlossenen Reihen der Polizei mit ihren Absperrungen, Panzerwagen und Wasserwerfern mitnehmen?

Was vor und während der Demo in Kalkar an Waffen sowie waffenähnlichen Geräten gefunden wurde, deutet darauf hin, dass reichlich Gewaltpotenzial angereist war. Unter den 5500 von der Polizei gesicherten Gegenständen befanden sich Messer, Macheten, Bolzenschussgeräte, Totschläger, Äxte, Fahrradketten, Stahlkugeln, Beile, Schlagstöcke und nicht zuletzt Material, wie man es gewöhnlich zur Herstellung von Molotow-Cocktails benötigt. 112 Personen wurden festgenommen. Unter ihnen ein paar Volltreffer, wie die Behörden mitteilten. So entdeckte man Personen, die bereits zur Fahndung ausgeschrieben waren. Man hatte im Klever Gefängnis vorsichtshalber 40 Zellen geräumt.

Trotz aller Horrorszenarien, die heraufbeschworen wurden, blieb die Welle der Gewalt und der Sturm auf den Brüter aus. Innenminister Hirsch machte dafür die strengen Kontrollen und die Taktik der Polizei verantwortlich. Sprecher der Bürgerinitiativen sprachen hingegen von der "Terrorisierung der Demonstration durch Hirsch" und behaupteten, ihr besonnenes Verhalten und ihr Ordnungsdienst habe den friedlichen Verlauf garantiert. Ohne Wirkung blieben die letzten Aufrufe einiger Extremisten. Auf der Wiese des Bauern Maas angekommen, das verhasste Bauwerk vor Augen, wurde der "Sturm auf den Brüter" als nächstes Ziel mit in die Luft gestreckten Fäusten herausgeschrien. Doch konnten die letzten prügelwilligen Marschierer problemlos zurückgedrängt werden. Die Schlacht um Kalkar war ausgefallen.

Die von der Polizei sichergestellten Funde kann man als Zeugnisse einer gespaltenen Bewegung deuten, durchdrungen von AKW-Gegnern und Freunden des Terrors.

Gut 35 Jahre später muss man trotz des nicht nur gewaltfreien Protests feststellen, dass es keine schlechte Idee war, Widerstand zu leisten gegen das Prinzip, durch Spalten von Atomkernen Wasser heiß zu machen.

(RP/ac)
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