Kreis Kleve Die Geschichte eines Bettlers von heute

Kleve · Emma freut sich. Mit ihrem Vater geht sie heute in die Stadt. Sie wollen neue Stiefel für Emma kaufen. Schöne warme, weil es bald Winter wird. Am liebsten rote.

Na endlich. Da ist das Schuhgeschäft. Davor sitzt ein Mann. Aber nicht auf einem Stuhl, sondern auf dem Boden. Vor sich hat er einen Hut und ein Schild aus Pappe. Emma bittet ihren Vater, ihr vorzulesen, was da steht. "Helfen Sie mir. Ich bin arm und obdachlos", liest Papa vor. "Was heißt das?", will Emma wissen. Papa ist das irgendwie peinlich, merkt Emma. Als er sie an die Hand nimmt, um ins Schuhgeschäft zu gehen, sieht sie, dass im Schuh von dem Mann ein großes Loch ist. Genau da, wo der dicke Zeh ist. Papa geht mit ihr in die Kinderschuhabteilung. Da stehen ganz viele Stiefel. Auch die schönen roten, die Emma sich gewünscht hat. Sie passen sogar. Papa lässt sie noch ein anderes Paar anziehen. "Falls die anderen mal nass sind", sagt er.

Mit zwei Paar Stiefeln gehen sie an die Kasse und Papa bezahlt. Draußen sitzt immer noch der Mann. Als sie das Loch in seinem Schuh sieht, bekommt Emma ein schlechtes Gewissen. Sie hat zwei Paar neue Stiefel, und der Mann hat nur sein Paar Schuhe mit Loch. Sie nimmt allen Mut zusammen. "Was heißt obdachlos?", will sie von dem Mann mit dem Pappschild wissen. "Ich habe kein Zuhause", sagt der und sieht dabei ganz freundlich aus. "Aber warum nicht?", will Emma wissen. So ganz kann sie sich das nicht vorstellen. "Ich habe keine Familie und keinen festen Ort, wo ich wohne." Emma hat noch viele Fragen. Sie will wissen, wo er denn schläft, wenn er müde ist, und warum er nicht arbeitet. Der Mann erzählt ganz viel aus seinem Leben und Emma findet, dass er bei der Kälte etwas Warmes Essen muss. Deswegen sammle er ja Geld, sagt der Mann.

Emma macht die Geschichte ganz traurig und sie muss an St. Martin denken, der seinen Mantel mit einem armen Mann geteilt hat, damit er nicht so friert. Auch der Mann auf dem Boden muss frieren, wenn er da die ganze Zeit so sitzt. Einen Mantel, den sie mit dem Mann teilen könnte, hat Emma nicht, aber eine Idee. Sie zupft ihren Vater am Ärmel und flüstert ihm etwas ins Ohr. Der nickt. "Wir kommen gleich wieder", sagt Emma zu dem Mann. Nach wenigen Minuten ist Emma wieder da. Von der Pommesbude in der Nähe des Schuhgeschäfts hat sie mit ihrem Vater eine heiße Suppe gekauft, aus der Bäckerei einen Kaffee und ein Brötchen besorgt. Vorsichtig stellt sie das auf den Boden. "Für dich", sagt sie. Da lächelt der Mann. "Danke, das ist sehr nett, kleine Dame." Emmas Papa lächelt auch. "Und eigentlich war das doch eine gute Idee", denkt er, als er mit Emma und den neuen Stiefeln auf dem Nachhauseweg ist.

(RP)
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