Kleve Der Wald wird farblos

Kleve · Die Wälder leiden unter einem zu hohen Ammoniakeintrag. Arten verschwinden, andere breiten sich ungehemmt aus. Die Vielfalt geht verloren. Intensive Viehhal- tung, so Naturschüt-zer, sei ein Grund für die bedrohliche Entwicklung.

 Waldbeerenernte im Reichswald in den 1950er Jahren.

Waldbeerenernte im Reichswald in den 1950er Jahren.

Foto: Carl Weinrother, aus "Siedlungsprojekt Reichswald 1950 - 2000"

Die Wälder leiden unter einem zu hohen Ammoniakeintrag. Arten verschwinden, andere breiten sich ungehemmt aus. Die Vielfalt geht verloren. Intensive Viehhal- tung, so Naturschüt-zer, sei ein Grund für die bedrohliche Entwicklung.

Sie wird der Kaviar des Waldes genannt. Die Waldbeere ist eine wertvolle Frucht. Für die Gesundheit, aber nicht allein dafür. Einst war diese Beere auch von wirtschaftlicher Bedeutung. In den Jahren nach dem Krieg wurde gesammelt, was der Wald hergab. Familien verdienten sich kniend und mühselig zusätzlich Geld. Einige mussten es, um über die Runden zu kommen. Schulferien wurden so gelegt, dass die Kinder beim Pflücken helfen konnten. Diese Zeiten sind Geschichte. Aber nicht, weil heute keiner mehr zur Haushaltssicherung auf Beeren angewiesen ist. Man findet keine mehr. Im Reichswald gibt es nicht eine Stelle, die beerntet werden kann. Waldbeeren, die auch Blau- oder Heidelbeeren genannt werden, liegen jetzt im Supermarkt. Sie werden auf Plantagen angebaut, sind groß wie Kirschen, verfärben die Zunge nicht mehr und kommen aus Peru.

Dietrich Cerff (48) ist häufig im Reichswald unterwegs. Für ihn ist die Nachricht, dass in dem Forst alle bedeutenden Waldbeervorkommen verschwunden sind, keine Überraschung. Cerff ist Biologe und arbeitet seit mehr als einem Jahrzehnt bei der Nabu Naturschutzstation Niederrhein. Die Vertreibung der Waldbeere ist nur ein Phänomen in einer Entwicklung der Wälder, die noch nicht abgeschlossen ist.

"Der Wald ist nicht mehr der, der er einmal war", sagt Cerff. Die Umwandlung hat besonders in der jüngeren Vergangenheit Fahrt aufgenommen. 1996 wurde die Vegetation im Naturschutzgebiet Geldenberg erfasst. Nur zehn Jahre später zeigten sich extreme Veränderungen. So gibt es Verlierer, aber auch Arten, die sich enorm verbreitet haben. Die typischen Gewächse des Reichswaldes werden weniger, stark zugenommen haben etwa die Him- und Brombeere, das Springkraut oder Brennnesseln und Kletten-Labkraut, was nicht jedem Spaziergänger sofort auffallen dürfte. Die Ursache für den sich verändernden Wald kommt aus der Luft. Es ist ein Übermaß an Stickstoff, genauer Ammoniak, das sich zum ökologischen Desaster entwickeln kann.

Für Cerff ist die Massentierhaltung in der Landwirtschaft ein wesentlicher Grund für die Eutrophierung des Waldes. Es setzen sich die Pflanzen durch, die mit hohen Stickstoffwerten im Boden besser zurechtkommen. "Vor allem in Regionen mit viel Tierhaltung sind die Werte hoch", erklärt der Biologe. Durch die stickstoffhaltige Gülle werden Felder nährstoffreicher. Der Effekt: Pflanzen wachsen besser und schneller. "Doch ein Teil der stickstoffhaltigen Salze gerät in Form von Ammoniak in die Luft", sagt Cerff.

Nicht nur auf das Ökosystem Wald hat zu viel Stickstoff negative Auswirkungen. Auch das Trinkwasser ist durch die Düngung der Felder gefährdet. Fast die Hälfte des Trinkwassers (44 Prozent) wird in NRW aus dem Grundwasser gewonnen. Ein Fachbericht des Landesamts für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz NRW (Lanuv) aus dem Jahr 2015 sagt aus, dass in NRW derzeit etwa 40 Prozent des Grundwasservolumens in einem schlechten Zustand sei. Grund dafür ist eine zu hohe Belastung durch Nitrat, das aus Stickstoff entsteht. In Gebieten mit Ackernutzung erreichten laut der Lanuv- Gutachten die aktuellen Nitratkonzentrationen im oberflächennahen Grundwasser Spitzenwerte. Grundwassermessstellen unter Ackerland-Einfluss mit einer Nitratkonzentration von mehr als 180 Milligramm pro Liter befänden sich unter anderem in den Kreisen Kleve, Neuss, Viersen, Wesel und Düren.

Die Stadtwerke Kleve haben mit zu hohen Nitratwerten keine Probleme. Das sagt Diplom-Ingenieur Arnold Lamers, Bereichsleiter bei den Stadtwerken. "Wir untersuchen nicht nur das Wasser in den Brunnen, sondern auch das oberflächennahe Grundwasser seit mehreren Jahren. Die Nitratkonzentration stagniert und liegt zwischen 40 und 42 Milligramm je Liter", sagt der Experte. 50 Milligramm sind erlaubt.

Kreislandwirt Josef Peters bestreitet nicht, dass die Eutrophierung der Wälder aufgrund von zu viel Stickstoff in der Luft forciert wird. Die Bauern seien jedoch nur zu einem Bruchteil dafür verantwortlich, so Peters. Zudem dürfe die Gülle nach der neuen Düngemittelverordnung demnächst nicht mehr nach oben ausgebracht werden. "Mit neuen Geräten wird der Boden eingeritzt und der Dünger dort eingebracht, damit kein Ammoniak freigesetzt werden kann", sagt Peters. Das Problem sei bekannt, so der Landwirt, man tue alles dafür, um die Situation zu verbessern. "Im Kreis sind schon Millionen Euro ausgegeben worden, um die Gülle bodennah auszubringen", betont der Kreislandwirt.

Dietrich Cerff ist weit davon entfernt, die Verantwortung für das gestörte Ökosystem allein bei den Landwirten zu suchen. "Autoabgase sowie weitere Umweltverschmutzungen tragen auch dazu bei", sagt der Biologe. Für ihn ist die Vorstellung, dass in den Wäldern bald nur noch die stickstoffliebenden Kräuter und Gräser stehen, ein Gräuel. Aber wohl nicht nur für ihn. Arten verschwinden, die Vielfalt geht verloren.

Der Biologe verdeutlicht dies anhand eines anderen Beispiels. Vor 13 Jahren kam er nach Kleve und war erschrocken über die langweiligen Wiesen. "In meiner Heimat bei Freiburg konnte ich als Kind noch bunte Blumensträuße zum Muttertag pflücken. Das geht hier nicht mehr. Wegen der Düngung und der zu häufigen Mahd findet man keine", sagt Cerff. Blumen werden gern zum Muttertag verschenkt. Dieser Tag ist in diesem Jahr ebenso vorbei, wie die Möglichkeit, dafür Wiesenblumen zu pflücken. Überhaupt findet man Sträuße einfacher und schneller im Supermarkt. Direkt neben den Waldbeeren.

(jan)
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