Frank Ruffing Und Severin-Peter Seidel "Der Gedanke ist lebendiger denn je"

Kleve · Zum 200. Geburtstag von Friedrich Wilhelm Raiffeisen wollen Volksbank Kleverland und Rheinische Post in den nächsten Wochen in einer Serie beleuchten, wie es heute um die genossenschaftliche Idee in der Region aussieht.

 Frank Ruffing und Severin-Peter Seidel in der Volksbank-Zentrale mit Blick auf die Klever Innenstadt.

Frank Ruffing und Severin-Peter Seidel in der Volksbank-Zentrale mit Blick auf die Klever Innenstadt.

Foto: Markus van Offern

Kleve Vor 200 Jahren wurde Friedrich Wilhelm Raiffeisen geboren, der vor allem den Gedanken der Genossenschaft - was einer nicht schafft, schaffen viele - formulierte. Erste Genossenschaften gründete er im ländlichen Bereich. Neben den Raiffeisen-Märkten, die heute noch seinen Namen tragen, stehen auch die Volksbanken in der Nachfolge Raiffeisens, der in vielen Gegenden auch Namengeber dieser genossenschaftlich organisierten Banken war. Hier hat jeder, der eine Mitgliedschaft ab 25 Euro zeichnet, auch ein Stimmrecht in der Genossenschaft. Die Volksbanken schauen jetzt auf die 200-jährige Geschichte zurück. Unsere Redaktion sprach mit dem Vorstand der Volksbank Kleverland.

Herr Ruffing, der Gedanke der Genossenschaft ist jetzt 200 Jahre alt - ist das noch zeitgemäß?

Frank Ruffing Der Gedanke ist seit 2017 sogar Weltkulturerbe - und lebendiger denn je. 1,2 Milliarden Menschen sind in Genossenschaften weltweit organisiert. Das ist der Exportschlager schlechthin, überall auf der Welt. Mir scheint, dass der genossenschaftliche Gedanke mit Hilfe zur Selbsthilfe stärker ist als Sozialismus oder Kapitalismus.

Das Prinzip Raiffeisen lebt also auch in digitalen Zeiten fort...

Severin-Peter Seidel Raiffeisen hatte zwei Prinzipien, die sein Leben geprägt haben: Solidarität und Hilfe zur Selbsthilfe. Schon 1845 prägte er den Dreischritt von der Selbsthilfe über die Selbstverantwortung zur Selbstverwaltung. Das ist natürlich immer noch hochaktuell.

Ruffing Heute zeigen im Übrigen die Genossenschaften der Politik, dass es auch ohne staatlichen Einfluss geht.

Der Gedanke begann ja vor 200 Jahren in der Landwirtschaft mit einem Hilfsverein.

Seidel 1849 gründete Raiffeisen den Flamersheimer Hilfsverein zur Unterstützung unbemittelter Landwirte. Heute gibt es allein in Deutschland im Agrarbereich 2200 Genossenschaften, im Energiebereich 860, es gibt über 3000 Handelsgenossenschaften, Edeka, Rewe und Euronics sind Genossenschaften. Wir haben 130 Schülergenossenschaften und nicht zu vergessen: 332 Sozialgenossenschaften mit über 300.000 Mitarbeitern in Behindertenwerkstätten, Sozialeinrichtungen, in der Altenpflege oder in Kitas. Hinzu kommen auch noch 2000 Wohnungsgenossenschaften.

Genossenschaftlicher Wohnungsbau ist aber deutlich zurückgegangen. Hat er ausgedient?

Ruffing Das stimmt - aber er erlebt gerade eine Renaissance in Zeiten von Wohnungsnot. Die Politik muss sich auch fragen lassen, ob es nicht besser wäre, auf genossenschaftlichen Wohnungsbau zu setzen anstatt staatliche oder kommunale Wohnungs-Gesellschaften zu fördern. Die erste Wohnbaugenossenschaft wurde übrigens schon im 19. Jahrhundert gegründet. Wir dürfen nicht zuletzt die Dienstleistungsgenossenschaften vergessen, die Einkaufsgenossenschaften für das Handwerk. Oder ganz zeitgemäß: die IT-Branche mit Datev.

Mit der IT-Branche ist die Genossenschaft dann im 21. Jahrhundert angekommen?

Seidel Am Anfang stand eine Bäckerei. Jetzt durch die Globalisierung und Digitalisierung gibt es deutlich mehr Möglichkeiten. Vor allem auch im genossenschaftlichen Prinzip der Solidarität und der Hilfe zur Selbsthilfe.

Wie sehen sie das Crowdfunding?

Ruffing Im Crowdfunding spiegelt sich der Grundgedanke der Genossenschaftsidee wider. Wir haben ja schon mit großem Erfolg mittels unserer Crowdfunding-Plattform "Gemeinsam für das Kleverland" Vereine unterstützt. Hier geben viele etwas, damit das, was wenige nicht schaffen, umgesetzt werden kann. Das werden wir natürlich weiter fortsetzen.

Kommen wir zu den Genossenschaftsbanken...

Ruffing Nach Missernten und der großen Überschwemmung Ende 1880 wurden in und um Kleve die ersten Raiffeisenkassen gegründet. Da haben sich die Menschen selbst geholfen. Zu den Genossenschaften gehörten alle Bevölkerungsschichten: Vom Bildungsbürger über den Landbesitzer bis zum Tagelöhner - und jeder hatte in der Vertreterversammlung - wie heute auch - die gleiche Stimme. Raiffeisens Idee war ja nicht, dass allen alles gehört. Begonnen hat die Idee der Bank, um den Wucherern zu begegnen, die die ungebildete Bevölkerung betrügerisch in den Ruin trieben.

Die Bank sollte aber auch Gewinn machen.

Seidel Klar, sie muss sich ja wirtschaftlich halten. Aber auch dahinter steht die Idee, was einer nicht schafft, schaffen viele. Die Hilfe zur Selbsthilfe steht bei der Einlage vorn, dann folgt erst der Gedanke an eine Ausschüttung oder Dividende.

Ruffing Das Genossenschaftsmitglied, das eine Einlage bei der Bank hat, hat den Anspruch, dass die Bank erfolgreich ist und ihren Geschäftszweck erfüllt. Die meisten sehen ihre Einlage als Beteiligung, weniger als Anlage. Wir sind dann wieder beim Anfang: Bei der von Raiffeisen geforderten Solidarität, bei der Hilfe zur Selbsthilfe, als Mitte des 19. Jahrhunderts Kredite an notleidende Landwirte vergeben wurden. Mit Geldern von allen Beteiligten.

DIE FRAGEN STELLTE MATTHIAS GRASS

(RP)
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