Kleve Das Dach der Stadt

Kleve · W ie groß muss ein Wahrzeichen sein? Für den Klever Herzog Adolf war diese Frage offenbar relativ schnell beantwortet: So groß eben, dass man bis auf die Kaiserpfalz in Nimwegen lange suchen musste, um einen derart imposanten Turm zu finden, wie der Schwanenturm einer war, als er im 15. Jahrhundert in den Himmel wuchs. Er war der Fels, auf den Adolf seine Herrschaft baute. Und damit dieses Mal alles glatt gehen würde, hatte er gleich die besten Baumeister des Landes zusammenkommen lassen. Denn mit dem Fels war das so eine Sache, wie der Herzog leidvoll erfahren musste: Der Vorgänger des Schwanenturms war am 7. Oktober 1439 mit Getöse zusammengestürzt, vermutlich wegen des nicht immer ganz einfachen Untergrunds, den eine Endmoräne aus Sand und Steinen wie der Klever Berg für Architekten nunmal darstellt. Dieses Mal also bitte alles richtig machen, war die Anweisung an die Baumeister. Die wuchtigen Mauern des Turms, im Erdgeschoss mehr als drei Meter dick, zeugen genauso davon wie der erhaltene Bauvertrag vom 28. März 1440. Der Schwanenturm sollte nicht mehr fallen - und fiel auch nicht mehr. Nicht einmal, als am 7. Oktober 1944 ein Halifax-Bomber der britischen Luftwaffe hineinraste, schwere Schäden anrichtete und nicht zuletzt den goldenen Schwan von der Spitze kappte, ihn im hohen Bogen in den Kermisdahl fallen ließ. Wenn er auch nach dem Zweiten Weltkrieg ein leicht verändertes Aussehen verpasst bekam - wieder mehr am mittelalterlichen Original angelehnt sollte er sein. Und weniger in der Optik, die der Turm nach zahlreichen Umbauten erhalten hatte.

D ie Schwanenburg ist bis heute Wahrzeichen der zuweilen sehr stolzen Klever geblieben. Den meisten reicht fürs Heimatgefühl ihr Turm, das Dach der Stadt: Man spricht auch vom Schwanenturm-Syndrom, wenn der Klever Entzug bekommt, weil er die Silhouette seiner Burg ein paar Tage lang nicht gesehen hat. Klingt übertrieben? Ist es. Ändert aber nichts daran. Was dieser Turm mit den Menschen hier anstellt, können auch zwei bestätigen, die sich Jahrzehnte wissenschaftlich mit ihm auseinandersetzen. Jens Wroblewski begann seine Karriere als Archäologe am Schwanenturm, Wiltrud Schnütgen hat zur Burg geforscht und publiziert, führt Besuchergruppen hindurch, kann sie von zuhause aus sehen und macht abends trotzdem manchmal die Webcam mit dem Livebild an. "Weil das mit der Abendsonne einfach so schön ist", sagt sie. Wenn man also erfahren möchte, wie es denn so war, das Leben im mittelalterlichen Turm, dann muss man diese zwei Klever fragen. Und mit ihrer Antwort leben können: "Wir wissen heute kaum etwas über die Ausstattung und Nutzung der Räume des Schwanenturms im 15. Jahrhundert", sagt Wroblewski. Was man weiß: Der Turm sollte in erster Linie nach außen wirken. Davon zeugen auch Kanonenkugeln, die bis heute sichtbar ins Mauerwerk eingearbeitet wurden. Anrückende Feinde sollten schon von weitem sehen: Dieser Turm ist so mächtig, er hält sogar Kanonenbeschuss aus. Ob er aber absichtlich so gebaut wurde, dass er aus verschiedenen Ansichten unterschiedlich wirkt - von den Galleien aus schlank über den Dächern der Stadt, vom Burghof aus deutlich massiger - ist unklar. Das eigentliche Leben der Adeligen am Hof fand jedenfalls nicht im Schwanenturm, sondern in den umliegenden Gebäuden statt. Und das Leben konnte ziemlich lebendig sein: Johann II., von 1481 bis 1521 Herzog von Kleve, werden 63 uneheliche Kinder nachgesagt. Heute würde man sagen: Ein echter Partylöwe.

A ber zurück zum Turm: Dessen Eingang lag deutlich über dem heutigen und war über eine zehn Meter hohe Holztreppe zu erreichen. Damit steht der Schwanenturm in Tradition zu den Bergfrieden, den Rückzugstürmen der Burg, bei denen man im Fall einer Belagerung die Treppe einziehen konnte. Als klassischer Bergfried hat der Schwanenturm allerdings nicht mehr gedient, meint Wroblewski. Der war im 15. Jahrhundert eigentlich schon aus der Mode - und auch nur noch bedingt sinnvoll. Die Kanonenkugeln eben. Wenn der Eingang damals aber deutlich über dem heutigen lag, wurde natürlich auch der heutige Empfang anders genutzt. Es dürfte bei der Begrüßung der Besucher auch viel weniger gelächelt worden sein: Im heutigen Erdgeschoss befand sich damals das Verlies, eine Etage tiefer die Sickergrube. In sie fiel der Unrat hinab. Was sich sonst noch in den Turmräumen befand? Das Mobiliar im Mittelalter war karg: mal eine Truhe, mal ein Bett. Nachgewiesen für den Wehrgang, heute durch die roten Luken erkennbar, ist ein Kamin. Dort könnte der Türmer gelebt haben. Hat er einmal in der Stunde den Weg unter das Dach angetreten? Dort, so Wiltrud Schnütgen, hing nämlich die Stundenglocke, die von Hand bedient werden musste. Wer hat sich sonst noch im Turm herumgetrieben? Sicher weiß man es nicht. Wir haben dennoch ein wenig unsere Fantasie spielen lassen - und wagen mit Zeichner Martin Lersch einen Blick in das Innere des Schwanenturms im 15. Jahrhundert.

(RP)
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