Online-Drogenhandel Die dunkle Seite des Genies

Kleve · Ein Mann aus Kleve soll Internet-Seiten programmiert haben, auf denen auch mit Drogen gehandelt worden ist. Im Gespräch erzählt er von Geldübergaben bei McDonald’s, Katz-und-Maus-Spielen mit dem FBI und dem Sog, in den er geriet.

  Fabian Ries (Name von der Redaktion geändert) an seinem Computer.

Fabian Ries (Name von der Redaktion geändert) an seinem Computer.

Foto: Markus van Offern (mvo)

Woran kann man heute den klassischen Computerfreak erkennen? An nichts mehr. Denn es gibt kaum noch welche, die das Klischee erfüllen. Bewegungsfaul, bebrillt und nachlässig gekleidet kamen sie daher. Fabian Ries* (23) ist ein Computerfreak. Auch er entspricht nicht der überholten Vorstellung des weltabgewandten PC-Experten. Er legt Wert auf sein Äußeres. Sauber geschnittener Drei-Tage-Bart, Sneakers, ausgewaschene Jeans und ein Marken-Hoody. Optisch kein Hinweis auf einen Typen, der seine Jugend vor dem Rechner verbracht hat. Fabian Ries ist freundlich, gut gelaunt und war offenbar einige Jahre ein Krimineller. Im Internet soll er mit zwei Männern eine Plattform geschaffen haben, auf der illegale Waren gehandelt wurden. Darunter die komplette Palette an Drogen. Aber auch gefälschte Pässe, Kreditkartennummern, Codes für sensible Bereiche im Netz, Zugangsdaten für Bezahlfernsehen wie Netflix, Telefonkartennummern oder gefälschte Designerware wie Prada und Gucci.

Fabian Ries kommt aus Kleve und sitzt in einem Café an der Emmericher Promenade. Er hat eine große Cola vor sich, die Hände gefaltet. Er wirkt kein bisschen beunruhigt. Dabei hätte er allen Grund dazu. Vor knapp sechs Monaten stand die GSG 9 bei ihm im Hausflur. 30 Beamte hatten zunächst die Doppelhaushälfte seiner Eltern umstellt und ihn festgenommen (wir berichteten). Nach knapp zwei Monaten Untersuchungshaft ist der 23-Jährige seit Juli wieder auf freiem Fuß. Derzeit wartet er auf sein Gerichtsverfahren. Eine Anklageschrift gibt es noch nicht. Ihm drohen maximal 15 Jahre Haft. Vorgeworfen wird ihm unter anderem die „gewerbsmäßige Verschaffung einer Gelegenheit zur unbefugten Abgabe von Betäubungsmitteln“. Anders formuliert: Er hat dabei geholfen, Drogen zu verkaufen. Aber nicht bei Nieselregen in irgendeinem Hinterhof, sondern im Internet. Hinzu kommen Veruntreuung schweren Grades und Steuerhinterziehung.

Tagsüber arbeitete Fabian Ries als Auszubildender in einer Computerfirma. Nachts schrieb er Programme für den Internet Marktplatz Wall Street Market (WSM). Bei seiner Festnahme war es der weltweit größte illegale Umschlagplatz im Darknet. Dort werden Geschäfte abgewickelt, in denen Anbieter und Käufer nicht zu identifizieren sind. „Selbst haben wir nie gehandelt. Wir haben Verkäufer und Käufer zusammengebracht“, erklärt er. Einmal den Weg auf den kundenorientierten Marktplatz gefunden, kann jeder hier Heroin kaufen, wie bei Amazon ein paar Pakete Klarsichthüllen. Das Angebot ist ebenso reichhaltig wie illegal.

Der Klever gehört zu den weltweit besten Programmierern für kriminelle Seiten im Darknet. Davon ist zumindest Jules de Jong (53) überzeugt. Der Niederländer hat einen Monat lang versucht, Kontakt zu dem 23-Jährigen herzustellen. Jetzt sitzt er mit ihm in dem Café. De Jong ist Journalist und will ein Buch über Cyberkriminalität schreiben. Seit Jahren kennt er die Szene, hat mit Tätern gesprochen, Gerichtsverfahren verfolgt, sich mit Informatikprofessoren und Hackern vom Chaos Computer Club getroffen. Für ihn steht in dem Gespräch nicht die Person im Mittelpunkt. Er will wissen, wie der Klever die Software entwickelt hat. Bei der Unterhaltung schüttelt er gelegentlich mit dem Kopf. Es hat etwas zwischen Ungläubigkeit und Bewunderung. „Was Fabian kann, das wird dir niemand beibringen können. Für mich ist er ein Genie“, urteilt de Jong.

Das vermeintliche Genie setzte seine Fähigkeiten laut Behörden auf der dunklen Seite des Internets ein. Mehr als drei Jahre soll der Softwareexperte für die Plattform „Wall Street Market“ Programme geschrieben haben. 200 Beamte vom FBI, Spezialisten des Bundeskriminalamts und niederländische Strafverfolgungsbehörden arbeiteten zuletzt zusammen, um Beweise zu sammeln, die für eine Festnahme des 23-Jährigen reichten. Bei der Verhaftung wurden in seinem Jugendzimmer 465.000 Euro gefunden. Deponiert in einem Wandsafe und mit einem Zahlenschloss gesichert. Die ihm gemachten Vorwürfe habe er alle gestanden, so der 23-Jährige.

Wenn der Klever von den Anfängen bis zu seinen Straftaten erzählt, klingt es wie ein spannender Film: Junger Computerfreak lässt FBI jahrelang alt aussehen. Die Geschichte begann mit 15 und einer  Kleinanzeige auf eBay. „Ich wollte mir ein gebrauchtes iPhone kaufen. 300 Euro kostete es. Ich habe das Geld gespart und überwiesen, aber das Handy kam nicht. Da habe ich mir gesagt: Das darf dir nicht noch einmal passieren.“ Zunächst sei es Neugier gewesen, so Ries. Er wollte wissen, wie das Betrugssystem funktioniert. Nächtelang verbrachte er vor dem Rechner, arbeitete sich immer tiefer ein. „Alles um mich herum habe ich kaum noch wahrgenommen.“ Die Vorbereitung auf sein Abitur lief nebenbei. Die Zeit vor dem PC war ihm wichtiger, als zu lernen. Das Ergebnis: Abi 2016 bestanden, mit einer Note, die ihn nicht interessiert. „Ich hatte eine 3,3 oder 3,4. Genau weiß ich es nicht“, sagt er. Auch Informatik als drittes Abiturfach half ihm da wenig.

In einem Chatroom traf der Klever auf die zwei Mittäter. Sie benötigten genau seine Fähigkeiten. Er fühlte sich wie ein Dienstleistungsunternehmen. „Die haben gesagt, was sie brauchen. Ich habe es programmiert.“ Er sei für den technischen Bereich wie die Gestaltung der Seiten oder die Zahlungsweisezuständig gewesen. Er entwickelte Phishing-Mails, mit denen persönliche Daten eines Internet-Nutzers abgegriffen werden. Tausende dieser Mails wurden verschickt, und Tausende kamen mit PayPal-Passwörtern, Kreditkarten- oder Kontonummern wieder zurück.

Bis zu zwölf Stunden täglich saß der Klever am Bildschirm. Seine Partner kümmerten sich um Akquise und Marketing. Zwei bis vier Prozent des Verkaufswerts gingen an die Betreiber. Kurz bevor das Trio aufflog, gab es 63.000 Verkaufsangebote und 1,1 Millionen Kunden auf dem Marktplatz. Gezahlt wurde in der Internetwährung Bitcoin. Bei der Festnahme besaß das Trio etwa 1100 Stück davon. Einer war 8000 Euro wert. Ein Vermögen von 8,8 Millionen Euro. Er habe den Behörden gezeigt, wo das Geld versteckt war, so der Klever.

Zwischendurch wurde die Internetwährung in Bares getauscht. „Das funktioniert wie in einem schlechten amerikanischen Film. Man trifft sich mit dem Käufer in irgendeiner McDonalds-Filiale. Die Bitcoins werden auf sein Handy überspielt“, erzählt er. Während des Vorgangs holt einer an der Theke zwei Happy Meals. Nach dem Essen wechselt dann ein gut gepolsterter Briefumschlag unter dem Tisch den Besitzer. Der 23-Jährige versuchte, möglichst wenig des erwirtschafteten Geldes zur Schau zu stellen. Einen 5er BMW für 20.000 Euro gönnte er sich. Mitschüler und Lehrer staunten, als er mit dem Wagen am Gymnasium vorfuhr. Woher das Geld kam? „Ich habe neben der Schule Programme für Firmen geschrieben“, erklärte er. Ansonsten lebte er wie Gleichaltrige: Feten, zocken am Computer, Billard spielen.

Knapp drei Jahre florierte das Geschäft auf dem Wall Street Market. Doch das Ende zeichnete sich ab. Es gab mehrere Gründe, sich früher von dem Modell zu verabschieden. Einige Jahre hechelten die Ermittler erfolglos hinter Ries her. Das Genie wurde sich seiner Sache zu sicher – und nachlässiger. Berauscht von den eigenen Fähigkeiten ging es für den Klever irgendwann wie in einem Computerspiel nur noch darum: „Wer ist besser, die oder du? Du gerätst in einen Sog, aus dem du nicht mehr heraus kommst.“ Die Plattform entwickelte sich zur Nummer eins im Darknet. „Je größer du wirst, desto intensiver beschäftigen sich die Ermittler mit dir. Die Verschlüsselungssoftware gab auch irgendwann den Geist auf, ich musste immer mehr Zeit investieren, und irgendwann schaffst du es nicht mehr“, erklärt der 23-Jährige. Die Belastung stieg, auch weil einer aus dem Trio ausstieg.

Die beiden wollten den Laden dichtmachen und Tausende Kunden um ihr Geld prellen. Die Ermittler waren schneller. Kurz nach dem Zugriff hatte das FBI bereits 30 Seiten Anklage auf den Tisch gelegt. In Deutschland sind die Ermittlungen der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt offenbar noch nicht abgeschlossen, so der Gießener Rechtsanwalt und Strafverteidiger Alexander Hauer, der den Klever vertritt. Er rechnet mit einer Anklageerhebung gegen Ende des ersten oder Beginn des zweiten Quartals.

Zwei Stunden erzählt Fabian Ries in dem Café von den vergangenen Jahren. Von einem Schüler, der um 300 Euro geprellt wurde, über einen begnadeten Programmierer zu einem mutmaßlichen Straftäter. Für den Journalisten Jules de Jong ist der 23-Jährige kein Krimineller, da er sich lediglich um die Technik gekümmert hat. „Smith & Wesson produziert Pistolen. Menschen kaufen sie und bringen damit andere um, wer ist dann der Täter?“, fragt der Niederländer. Ries will davon nichts wissen. „Mir ist bewusst, dass ich etwas gemacht habe, das falsch war. Irgendwann bekommst du nicht mehr mit, was rechts und links passiert. Du bist wie in einem Tunnel“, sagt er. Nächtelang habe er vor dem Rechner gesessen und sei immer weiter Richtung Illegalität gerutscht.

Seit der Entlassung aus der Untersuchungshaft muss er sich zweimal in der Woche bei der Polizei melden. Ansonsten verläuft das Leben von Fabian Ries nahezu wie früher. Geblieben sind ihm sein Job, ebenso wie einige gute Freunde und natürlich die Familie. 15 Jahre seines Lebens könnte er aber verloren haben.
*Name von der Redaktion geändert.

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