Buchbesprechung Corona und das Auseinanderdriften der Gesellschaft

Kranenburg · Der in Kranenburg lebende und in Nimwegen lehrende Philosoph Jean-Pierre Wils hat einen spannenden Essay herausgegeben. Über Corona, aber vor allem über den Riss in der Gesellschaft.

 Der Philosoph Jean-Pierre Wils lehrt in Nimwegen Ethik und Kulturphilosophie.

Der Philosoph Jean-Pierre Wils lehrt in Nimwegen Ethik und Kulturphilosophie.

Foto: Markus van Offern (mvo)

Es ist die Geschichte einer Vollbremsung. Einer Vollbremsung auf der Überholspur, mehr noch, einer Notbremsung. Es ist die Geschichte einer Gesellschaft, die mit Vollgas auf dieser Überholspur raste, die abrupt und völlig unvorbereitet zum Stehen kommt und ihre „Handlungsmacht oder, modern formuliert, (ihre) Autonomie abtreten“ muss, wie Jean-Pierre Wils es formuliert. Der in Kranenburg lebende und an der Radboud-Universität Nimwegen lehrende Philosoph hat die Geschichte der Gesellschaft, die in der Corona-Krise ausgebremst wird, aufgeschrieben, erklärt, analysiert.

Aber Jean-Pierre Wils Essay „Der große Riss“, der jetzt beim Hirzel-Verlag (269 Seiten, 24 Euro, ISBN 978-3-7776-2918-6) erschienen ist, ist mehr, als „nur“ die Geschichte und die Analyse der Krise einer Pandemie und den gesellschaftlichen Verwerfungen, die damit verbunden waren und sind. Wils erkennt und erklärt, wie die Pandemie die Gesellschaft in einer bestimmten Disposition erreichte, in einer krisenhaften Disposition: Das Virus „bedrängte eine Kultur wachsender Selbstzweifel, ein politisches Kollektiv voller Risse, eine Demokratie im Krisenmodus“, so Wils. Es trifft eine Gesellschaft, die verlernt hatte, zurück zu schauen, aus der Erfahrung zu schöpfen und nur noch dem vermeintlichen Ziel irgendwo weit vorne mit Vollgas auf der Überholspur hinterherraste, weil die „Erfahrungen irgendwann nicht länger mit den Erwartungen Schritt halten konnten“.

Der „Große Riss“ entwickelt sich so entlang der Corona-Krise zu einem Abriss all dessen, wie sich die westliche Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt hat und zu dem wurde, was sie jetzt ist. Zu einer Gesellschaft, in der sich alles in einer rasenden Gegenwart abspielt und in der es den Menschen immer schwerer fällt, den Überblick zu bewahren und die Dinge in einem Zusammenhang zu sehen. Und die dann auf dem völlig falschen Fuß von der Vollbremsung vor der Pandemie erwischt und deren Risse damit offenbar wurden. Es sind gesellschaftliche Risse, die nicht erst durch Corona entstanden, sondern zuvor da waren, die zeigten, wie die Gesellschaft auseinanderdriftete. Aber Corona wirke wie ein Brennglas: „Darunter sehen wir den instabilen Zustand unseres Zusammenlebens noch deutlicher“, schreibt der Verlag.

Wils‘ Analyse der Entwicklung, die dazu führte, ist bestechend – man legt sie als Leser nur ungern zur Seite. Er erzählt vom giftigen Dissens in der Gesellschaft, der die anfängliche Solidarität ablöste, von den Erzählungen rund um den veränderten Begriff Volk, den Populisten und Rechte vereinnahmten, aber auch, zurückblickend, von der Umgestaltung des sozialen Wohlfahrtsstaates im Zuge neoliberaler Revolution und Globalisierung, von den heißlaufenden Medien. Es geht auch darum, so zitiert er die Autorin Carolin Emcke, dass die Zeit, die uns bleibt, als „existenzielle Währung“ zu behandeln sei, denn die Zeit, die bleibt, käme der Gesellschaft langsam abhanden, um noch umzusteuern. Wils schreibt, dass die „Umpolung der Gesellschaft, die neue Priorisierung große Mühe kosten“ wird, zumal man sich bequem eingerichtet habe in der „Ausblendung der Konsequenzen unserer Lebensformen“. In einem Interview mit dem Bayrischen Rundfunk ergänzt er, dass es um ganz reale Notwendigkeiten in den Jahren, die uns bleiben, geht: „Damit wir größere Krisen, die dann ein unbeherrschbares Maß erreichen, vermeiden. Es ist die Aufforderung, uns zu besinnen. Das heißt, wir müssen weit in die Zukunft hineindenken und überlegen, welche Zeiträume uns bleiben. Wir sollten uns weniger expansiv im globalen Rahmen bewegen, sondern uns mit regionaler Solidarität, also mit den fundamentalen Voraussetzungen eines Überlebens befassen“. Wobei er das Regionale hier als europäisch verstehe. Bei der Umpolung der Gesellschaft und der damit verbundenen Mühe klingt auch Verzicht durch, Anstrengung. Aber, so Wils:  „Der Begriff des Verzichts war in der Tat in den letzten Jahren häufig als demotivierende Vokabel betrachtet worden. Aber wir müssen uns realitätstüchtig machen. Und dazu gehört, dass wir die angemessenen Begriffe benutzen. Verzicht heißt ja auch keineswegs eine Reduzierung unserer Lebensqualität. Es heißt nicht, dass wir ein unbequemes Leben führen werden – sondern ein anderes“. Wobei die Krise durch den Klimawandel, als „basso continuo“ (so Wils) omnipräsent ist.

Auch wenn schon in der Analyse die notwendigen Veränderungen klar werden, entwirft Wils konkrete Vorschläge zur Richtungsänderung. Zu einer Kultur, die zurück zu einem menschlichen Maß führt, die Zögern und Zaudern wieder zulässt und die richtige Mitte zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig wiederfinden sollte.

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