Literatur Als Hönnepel noch eine Heimat war

Kalkar · Der bekannte Autor Christoph Peters wuchs in Hönnepel auf, genau in der Zeit, in der der Brüter gebaut wurde und sich die Bürgerschaft in Unterstützer und Bekämpfer spaltete. Peters’ neues Buch heißt „Dorfroman“.

 Christoph Peters stammt aus Kalkar, machte in Gaesdonck Abitur und lebt heute mit seiner Familie als Schriftsteller in Berlin. Mit seinem „Dorfroman“ ist er derzeit auf Lesereise

Christoph Peters stammt aus Kalkar, machte in Gaesdonck Abitur und lebt heute mit seiner Familie als Schriftsteller in Berlin. Mit seinem „Dorfroman“ ist er derzeit auf Lesereise

Foto: Peter von Felbert

Wir sind praktisch miteinander aufgewachsen, wenn wir uns auch nicht kannten – beide Jahrgang 1966. Dieser Umstand ist nur insoweit relevant, als ich den  Mann mit Brille und ernsthaftem Gesichtsausdruck, der im Nachrichtenstudio vor einer Weltkarte sitzt, noch gut in Erinnerung habe. Seine wie meine Eltern standen in den 70er Jahren mitten in der Nacht auf, wenn Cassius Clay, der später Muhammed Ali hieß, in den Ring stieg. Wenn das Röhrengerät mal schwächelte, war das schlimm und ein Glück, dass es damals noch in fast jedem Ort einen Radio- und Fernsehfachmann gab, der alles wieder gut machte. So konnten Christoph in Hönnepel und ich in Sonsbeck „Lassie“ und „Flipper“ gucken. Wenn in der Tagesschau Scheichs aus dem Nahen Osten zu sehen waren, die für das Thema Energie standen, konnte der Grundschüler aus dem Kalkarer Ortsteil damit mehr anfangen als ich. Denn in seinem Dorf wurde etwas gebaut, das Deutschland unabhängig von Öl aus fernen Ländern machen sollte. Ich war längst auf dem Gymnasium, als mir Sticker wie „Atomkraft nein danke“ auffielen. Christoph Peters musste sich schon als Siebenjähriger eine Meinung bilden. Darüber hat er jetzt ein Buch geschrieben, den „Dorfroman“.

Nicht, dass es nur um die Erinnerungen eines kleinen Jungen ginge, ganz und gar nicht. Das Buch hat drei Zeitperspektiven, neben der des Kindes die des Jugendlichen, der in Kontakt zu den Atomkraftgegnern nahe der Brüter-Baustelle gerät, und der heutigen, wo Christoph Peters beinahe 54 Jahre alt ist, eine Frau und eine fast erwachsene Tochter hat und Eltern, die langsam alt werden. Auch das ein Thema, das  jeder Vertreter unseres Geburtsjahrgangs kennt. Für Christoph Peters, der inzwischen in Berlin lebt, hat das Altern von Mutter und Vater sogar die Folge, dass er den Kontakt zur Heimat verliert: „Sie sind jetzt weggezogen zu meiner Schwester nach Leverkusen. Wenn ich nach Kalkar komme, muss ich mir ein Hotelzimmer nehmen.“

Kalkar schreibt er im Roman mit C ebenso wie Cleve. Die Namen der Orte sind ein wenig verfremdet, umso stärker, je näher sie dran sind am Ort des Geschehens. Der Bau des Schnellen Brüters geschieht im  „Dorfroman“ im Ort Hülkendonck, wo damals streng katholische Menschen leben, die zum Kaffeetrinken mal nach Schloich fahren, was  Peters im Gespräch als Goch übersetzt. Der junge Mann, der im Roman die linke Gegenkultur kennenlernt, die so wunderbar anders ist als sein bürgerliches Elternhaus, ist im Buch Schüler des Calcarer Gymnasiums (das in Wahrheit seine Schwester besuchte), denn er selbst war Gaesdoncker. Als Internatsschüler, versteht sich, denn anderes gab’s damals noch nicht. Diese Jahre hat Christoph Peters übrigens 2012 in „Wir in Kahlenbeck“ beschrieben.

Der neue Roman ist ebenso wie die vorangegangenen nicht historisch, sondern fiktional, betont Peters. Aber dass der Weihbischof Kerventrupp heißt, die Dorfkirche Sankt Verafredis und der Bauer, bei dem sich die „langhaarigen Gammler“ einquartieren, Seesing, das alles fällt nur Insidern auf. 30 Jahre ist es her, dass der Ich-Erzähler von zu Hause weg zog, und viel hat sich in der Zwischenzeit geändert. Sogar zum Guten, etwa, dass sich wieder Störche angesiedelt haben, fast ein Grund, an den Niederrhein zurück zu kehren, schreibt Peters. Erhalten sind aber auch Relikte der Zeit, in der der Junge aus Hönnepel erwachsen wurde. Der verfallene Melkstall des berühmt gewordenen Bauern etwa, in dem die Kommune, die den Widerstand organisierte, ihr „Freundschaftshaus“ eingerichtet hatte. Von dem roten Sofa aus, das Christoph Peters später fotografierte, konnte man damals das AKW wachsen sehen. Heute fiele der Blick, wenn dort noch jemand säße, auf den mit Bergen bemalten Kletterturm. „Ich war noch nie im Wunderland“, gibt der Autor zu.

Kalkarer, Gocher oder Klever, die das Buch lesen, werden die Geschichte von dem kleinen Jungen, dessen Vater im Kirchenvorstand war und gerne das Land für den Brüter-Bau hergab, damit man sauberen Strom erzeugen könnte, anrührend finden. Nachsichtiges Verständnis zeigen werden sie vermutlich für den Pubertierenden, der sich in die Aktivistin Juliane verliebt, die die Welt retten möchte, aber den Drogen und schließlich der Resignation verfällt. Sie werden sich fragen, ob der Graben, der sich damals durch die dörfliche Gesellschaft zog, nach so langer Zeit wirklich zu geschüttet ist. Und was wohl aus der Umgebung geworden wäre, wenn der Brüter ans Netz gegangen wäre.

Christoph Peters ist ein wunderbarer Erzähler, die Erinnerungen des naiven Sechsjährigen sind so glaubwürdig und sprachlich stimmig wie die Befreiungsversuche des 15-Jährigen und die Erkenntnisse des Erwachsenen. Berührungsängste gegenüber  ausgezeichneter und von Kulturstiftungen geförderter Literatur sind in diesem Fall unnötig.

Der „Dorfroman“ ist anspruchsvolle Zeitanalyse, aber auch beste Unterhaltung.

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