Kleve 7. August 1914: Im Stechschritt in den Untergang

Kleve · In Kleve war das III. Bataillon des Infanterieregiments Nr. 56 untergebracht. Von der neuen Kaserne an der Brabanterstraße marschierten die Soldaten kurz nach Eintritt des Deutschen Kaiserreichs in den Ersten Weltkrieg zum Bahnhof. Ihre erste Aufgabe: Eroberung der Festung Lüttich.

 "Englische Liebesgabe" steht auf der Granate: Hebing (l.) mit Kamerad.

"Englische Liebesgabe" steht auf der Granate: Hebing (l.) mit Kamerad.

Foto: nn

Es war der 25. September 1915 — der Erste Weltkrieg hatte Fahrt aufgenommen, als der Klever Johann Hebing mit einem Kameraden nicht ohne Stolz eine englische Granate präsentierte. Mit weißer Kreide hatte man das Datum und die Größe des Geschosses (1,45 Meter) darauf geschrieben, zusätzlich den Hinweis: "Englische Liebesgabe". Hebing war als Sanitäter in der Schlacht bei La Bassée dabei. Im Dezember 1914 hatte er mit dem III. Bataillon des Infanterieregiments 56 aus Wesel und Kleve seine Stellung in der kleinen Stadt im französischen Flandern bezogen.

 Kartenspiel mit Gasmaske: Die bizarre Aufnahme entstand an der Ostfront. Johann Hebing war auch in Russland stationiert.

Kartenspiel mit Gasmaske: Die bizarre Aufnahme entstand an der Ostfront. Johann Hebing war auch in Russland stationiert.

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Als Sohn eines Landwirts wurde Johann Hebing am 15. September 1889 in Warbeyen geboren. Seine Tagebuchaufzeichnungen gehören zu den wenigen hiesigen umfangreichen Überlieferungen aus dem Ersten Weltkrieg. Hebing war 25 Jahre alt, als er am 7. August 1914 mit dem Klever Bataillon von der Brabanterstraße über die Große Straße zum Klever Bahnhof zog. Fünf Tage zuvor war die allgemeine Mobilmachung befohlen worden. Bei dem Marsch durch die Klever Innenstadt spiegelt sich die Stimmung wieder wie sie auch im Verwaltungsbericht der Stadt Cleve von 1914 notiert wird: "Als die Nachricht der Mobilmachung eintraf, wirkte es wie eine Entspannung. Erhebend war es zu sehen, wie hier in Cleve die Einmütigkeit und Geschlossenheit aller, ohne Unterschied der Parteien, zu Tag trat." Vor dem Abmarsch hatte der Major und Kommandeur des Klever Bataillons, Ernst Zoellner, auf dem Kasernenhof noch eine kurze Ansprache gehalten, in der er auf den Ernst der Lage hinwies — verbunden mit einem Hoch auf Vaterland und obersten Kriegsherrn.

 Auf in den Kampf: Am 7. August 1944 ziehen Klever Soldaten durch die Große Straße zum Bahnhof.

Auf in den Kampf: Am 7. August 1944 ziehen Klever Soldaten durch die Große Straße zum Bahnhof.

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In einer Aufzeichnung des Regiments-Chronisten über den Marsch der Clever Soldaten heißt es: "Tücher wehten, Hände werden gedrückt, Blumen geworfen. Nun der Preußenmarsch, aufrüttelnd wie nie zuvor, über persönliches Leid und völkisches Schicksal hinwegfegend wie klangvoller Siegeswille." Zumindest diese Aufzeichnungen zeugen von einer Begeisterung für den Krieg, der von einem euphorischen Nationalgefühl getragen wurde. Im Stechschritt begleitet mit klingendem Spiel ging es in die Stadt herunter in den Untergang. Oder, wie es im Verwaltungsbericht geschrieben steht: "Hin zu Kampf und Sieg." Am Bahnhof angekommen, wurde Major Zoellner von Kleves Bürgermeister Dr. Heinrich Wulff verabschiedet. Es sollte das letzte Gespräch zwischen den beiden Persönlichkeiten sein. Knapp drei Monate später war der Major des Klever Bataillons gefallen. Im Bericht der Stadt Cleve heißt es: "Den Heldentod starb Major Zoellner". Den "Heldentod" starben damals alle. Das Klever Bataillon sollte nicht wieder in die Heimat zurückkehren. Es wurde im Krieg zermahlen.

 Johann Hebing führte auch an der Front ein detailliertes Tagebuch.

Johann Hebing führte auch an der Front ein detailliertes Tagebuch.

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Einen Monat nach dem Ausrücken der Klever Soldaten trafen die ersten Verwundeten in der Heimat ein. Der Warbeyener Johann Hebing war nicht unter ihnen. In sein Tagebuch, das seine Tochter dem Klever Stadtarchiv zur Verfügung stellte, schrieb er nahezu mit der Emotionslosigkeit eines Bilanzbuchhalters über seine Erlebnisse an der Front. Am 17. April 1915 notierte Hebing etwa: "Die Kompanie liegt in vorderer Linie und hat durch feindliche Mienen vier Mann Verluste. Sonst nichts besonderes." Es war die Zeit, in der Hebing in den Schützengräben bei La Bassée lag. Front-Alltag war eingekehrt, wie es das Tagebuch vermittelt. Der Rhythmus blieb über Monate unverändert: Kampf in vorderster Linie, Bereitschaft und Ruhequartier, bevor es wieder in den Schützengraben ging. Der Klever berichtete von ersten Gasangriffen der Engländer, die jedoch wirkungslos verpufften. Am 4. November 1915 schrieb er von einem für seine Aufzeichnungen emotionalen Ereignis an der Front: "Erster Tag in vorderster Linie. Fast kein Schuss fällt, was sozusagen zu einem waffenstillähnlichen Verhältnis zwischen unseren Leuten und den Engländern führte, zumal die Engländer am Trichter nur 15 Meter entfernt liegen. Ein Kompanie-Befehl verbot aufs Strengste jede Unterhaltung oder Annäherung mit den Engländern".

 Kleves Bürgermeister Dr. Heinrich Wulff (l.) und Bataillons-Kommandeur Major Ernst Zoellner unterhalten sich bei der Abfhart der Klever Truppen am Bahnhof.

Kleves Bürgermeister Dr. Heinrich Wulff (l.) und Bataillons-Kommandeur Major Ernst Zoellner unterhalten sich bei der Abfhart der Klever Truppen am Bahnhof.

Foto: Stadtarchiv Kleve

Die Zahlen des 56. Infanterieregiments, aus Wesel und Kleve stammte, sind erschütternd. Sie waren nahezu an allen Kriegsschauplätzen dabei — auch beim Massengrab in Verdun. Die Verluste waren enorm. Allein die Gefallenenliste der 56er (Sollstärke 3000 Mann) führt mehr als 4000 Namen auf. Das heißt, dass dieses Regiment im Krieg einmal komplett sowie durch weitere 1000 weitere Soldaten ersetzt werden musste.

Johann Hebing kämpfte ebenfalls in Verdun, bevor er am 23. Juli 1916 wegen einer Schleimbeutelentzündung ins Lazarett überwiesen wurde. Einen Monat sah er Kleve wieder, als er dort im Oktober 1916 gepflegt wurde, bevor es wieder an die Front ging. Anfang des Jahres 1917 kämpfte er in Russland. Als die deutsche Heeresleitung Sorge hatte, dass die Alliierten verstärkt über die niederländischen Grenzen einmarschierten — die Niederlande hielten sich als neutraler Staat aus dem Ersten Weltkrieg heraus, diente Johann Hebing ab dem 18. September 1917 in der 1. Kompanie Ersatz-Bataillon Landwehr- Infanterie-Regiment 55 Kleve. Infolge der Demobilmachung wurde er von seinem letzten Einsatzort, der in Kranenburg war, entlassen. Nach seiner Heimkehr lebte er in Hasselt. Als Bankangestellter arbeitete er bei der Sparkasse bevor er 1960 im Alter von 71 Jahren starb.

Der Erste Weltkrieg endete am 11. November 1918. Die Stadt Kleve hatte noch schnell — kurz vor dem Finale — dem Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg das Ehrenbürgerrecht verliehen. In dem "Verwaltungsbericht der Stadt Cleve von 1910 - 1926" wurde schon über den Beginn des Ersten Weltkriegs in patriotischer Weise berichtet. Und in ebenso nationalistischer Weise schließt auch der Bericht. Als das Kriegsende bevorsteht, heißt es in der Abhandlung: "Herrliche Siege konnte das Heer an seine Fahnen heften. Trotz der großen Übermacht der Feinde zu Wasser und zu Land, schlugen sich unsere braven Feldgrauen und blauen Jungens wacker und flößten den Feinden gewaltige Achtung ein." Die gewaltige Achtung der "wackeren Jungs" ist in der Stadt-Chronik auf den nachfolgenden Seiten dargestellt. Auf der sogenannten Ehrentafel werden in 22 eng beschriebenen Seiten die Namen der im Krieg gefallenen Klever genannt. Aufgelistet in alphabetischer Reihenfolge.

Verwendete Quellen für Text und Bilder: "5. November 1915: Nichts von Bedeutung bei La Bassée", Kalender für das Kleverland 2012, Autor: Clemens Reinders; Drs. Bert Thissen (Stadtarchiv Kleve); Nachlass Hebing; Verwaltungsbericht der Stadt Cleve von 1910 - 1926.

(RP)
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