Kleve 50 Jahre Gelassenheit

Kleve · Vor 50 Jahren präsentierte Mercedes-Benz die neuen Limousinen der oberen Mittelklasse. Mehr als 1,8 Millionen Fahrzeuge der Baureihen W 114 / W 115 wurden verkauft. Die Diesel dieser Serie sind phlegmatische Allerweltsautos mit inneren Werten. Um diese zu erkennen, braucht es vor allem Zeit.

 Im Werk Sindelfingen lief das 1968 vorgestellte Auto vom Band. Mehr als 1,8 Millionen Fahrzeuge dieser Baureihenfamilie wurden verkauft.

Im Werk Sindelfingen lief das 1968 vorgestellte Auto vom Band. Mehr als 1,8 Millionen Fahrzeuge dieser Baureihenfamilie wurden verkauft.

Foto: Daimler AG

Es begann so, wie alles beginnt, aus dem später Liebe wird: zufällig. In dem Fall passierte es im Anzeigenteil. Auf der Suche nach dem ersten Auto waren in den 1980er Jahren hintere Teile von Tageszeitungen eine Fundgrube. Das reichhaltige Gebrauchtwagenangebot wurde allein vom Budget eingeschränkt. Die Chance, bei einer falschen Entscheidung plötzlich knietief im Dispo zu stehen, war groß. Den Kauf eines Alltagsautos im Sinn, blieb der Finger stehen bei:

 Alles aus 1968. Mit einem 220 D und 60 PS in der Niederung bei Kranenburg unterwegs. Es ist der dritte Strich-Acht nach der ersten Begegnung vor 31 Jahren.

Alles aus 1968. Mit einem 220 D und 60 PS in der Niederung bei Kranenburg unterwegs. Es ist der dritte Strich-Acht nach der ersten Begegnung vor 31 Jahren.

Foto: Markus van Offern

MB 200 D, Bj. 1971, Preis VB 2800 DM, Tel. 02827 . . .

Der Verkäufer wohnte im Gocher Vorort Hommersum. Ein Freund, der seit Jahren Reparaturaufträge für Kraftfahrzeuge annahm, musste mit. Es war im September 1987, als ein ergrauter, freundlicher Herr in Jackett die Haustüre öffnete. Er reichte uns die Hand, ging zu einer seiner Garagen und schob ein Tor hoch. Dabei verlor er einige Worte über das Fahrzeug. Der Mann erweckte den Eindruck, als habe er erst in der vergangenen Woche bemerkt, dass da noch ein Auto steht.

Der Freund kroch unter den Benz. Stets bereit, die Grenzbereiche von seriösen Verhandlungen zu erkunden, sprach er sofort davon, dass der linke Kotflügel und das Innenleben der Türen tiefe Einblicke zulassen. Sein Fazit: 2800 seien zu viel, höchstens 2000 Mark. Der ältere Mann sah uns an und entgegnete: "Aber wir sollten uns doch hier nicht um 800 Mark streiten. 2000 Mark sind angemessen." Wir schauten uns mit dem versteinerten Gesichtsausdruck eines Verurteilten an. Entweder hatte der Herr viel Geld oder viel Humor. Für 2000 Mark wechselte der Diesel den Besitzer.

So unbedeutend manche Entscheidungen im Leben auch wirken mögen, können sie doch folgenreich sein. Mit dem Kauf des Autos vor mehr als 30 Jahren beginnt eine Verbundenheit zu einem Modell, die bis heute hält.

Es war ein Mercedes Benz 200 D, und er gehört zu einer Baureihe, die 1968 in Sindelfingen vom Band lief. Wegen des Jahrgangs heißt das Auto in der Szene Strich-Acht. Der Wagen brach zunächst gesellschaftliche Tabus und später Rekorde. Er war schlichter als alle anderen Fahrzeuge aus dem Hause Mercedes zuvor, kam ohne Schnörkel und Protz aus. Mit mehr als einer Million verkaufter Exemplare sprengte die Modellserie alle Absatzrekorde.

Doch wer sich Ende der 80er Jahre als Vorreiter in Sachen Musik und Mode sah, hatte es mit dem Wagen nicht leicht. Da standen 55 PS in der Einfahrt, 16 Jahre im Alltagsbetrieb, Farbe Cayenne-orange, ein altes Etwas mit hohem Rostrisiko, das zumindest keine Missgunst schürte. Wenn, dann eher Mitleid. Von Landwirten gefahren und Rentnern gepflegt, war es ein Auto der Biedermänner. Der Spiegel schrieb einst dazu: Sie waren das maßgeschneiderte Vehikel für die ländliche Bevölkerung, die im gemächlichen Rhythmus der Fruchtfolge lebte und mit tannengrünen Gummistiefeln im tannengrünen Mercedes 200 D durch die Fluren zockelte. Auf den ersten Blick ist es ein Wagen ohne irgendein Talent.

Das beginnt bei der Geschwindigkeit. Der phlegmatische Diesel benötigt mehr als eine halbe Minute, bis die Tachonadel die 100-Stundenkilometer-Markierung hinter sich gelassen hat. Selbst in der Werbebroschüre wurde in Sachen Geschwindigkeit nicht versucht, irgendetwas schön zu reden: "Die Höchstgeschwindigkeit des 200 D von 130 km/h ist Dauergeschwindigkeit". Wer will, könne damit Hunderte von Kilometer ohne Unterbrechung fahren, hieß es weiter. Wer das Modell kauft, entscheidet sich für ein Leben auf der rechten Fahrbahn. Doch besitzen gerade die trägen Diesel-Fabrikate innere Werte. Wer sie entdecken will, braucht vor allem eins: Zeit.

Vor 30 Jahren waren die kläglichen 55-Selbstzünder-PS ein Grund, das temperamentlose Automobil nicht zu kaufen. Heute ist es genau anders herum. Denn der Wagen beruhigt einen und bietet Entspannung. In einer auf Schnelligkeit ausgerichteten Zeit, schenkt der Strich-Acht einem diese. Die Entschleunigung findet zwangsweise statt, auf eine angenehme Art. Es ist die Langsamkeit, die einen hier innehalten lässt. Wer mit dem gutmütigen Auto fährt, verliert keine Zeit. Er gewinnt welche. Verbunden mit dieser Erkenntnis, gibt es weitere Werte des Diesel-Modells, die ihn über die Jahre hinweg zu einem Liebhaberfahrzeug gemacht haben.

Bewegend ist seine Zuverlässigkeit. Die Technik ist ebenso robust wie das Inventar. Auch fällt der Kraftstoffverbrauch moderat aus. Er schluckt weit weniger als Benziner aus dieser Zeit, die sich Sprit wie ein in die Jahre gekommener Fanbus reinkippen. Allein die klassischen Roststellen wollen versorgt sein. Diese Langlebigkeit ebnete ihm den Weg vom Gebrauchtwagen zu einem mittlerweile geliebten Klassiker. Trotzdem steht dieses Mercedes-Modell bei den großen Oldtimer-Treffen nie im Mittelpunkt, sondern schüchtern am Rand. Er gehört nicht zu den auf Hochglanz polierten Automobilen, die mit Summen wie Telefonnummern gehandelt werden. Der Strich-Acht ist eine erschwingliche Perle historischer Autoleidenschaft. Kein Fahrzeug für die Galerie, sondern für den Alltag.

Wer heute damit unterwegs ist, erntet neugierige Blicke. Denn die Mercedes-Baureihe ragt heraus unter den vom Strömungswiderstand zusammengedrückten Pkw. Panoramascheibe, hochkant stehende Scheinwerfer und alles verbunden mit dem Gespür, dass sich unter der Motorhaube etwas bewegt.

Er wird ernst genommen und ist beliebt. Der neben einem an einer Ampel wartende Fahrer, hebt den Daumen und nickt anerkennend. An der Tankstelle kommen ältere Männer in zu großen Jeanshosen auf einen zu. Erst drehen sie eine halbe Runde um den Wagen und beginnen das Gespräch alle gleich: "Der sieht aber noch verdammt gut aus. Wir hatten früher auch..." - und an dieser Stelle unterscheiden sich die Unterhaltungen. Trennen muss sich jeder Oldtimer-Besitzer von dem Gedanken, die Blicke würde ihm gelten. Es geht immer nur um das Auto.

Doch fühlt sich der Diesel in der Stadt ohnehin nicht wohl. Er wurde für das Land und den Blick auf den Horizont gebaut. Der Wagen mag lang gezogene Straßen mit leichten Kurven, die es zulassen, sie mit einer Hand am Lenkrad zu nehmen. Den Ellenbogen aus dem Fenster hängend. Es ist großartig, bei untergehender Sonne ohne Plan durch die Niederung zu fahren und Musik zu hören (geeignete Lieder im nebenstehenden Kasten). Und wer bei der ziellosen Tour auf der Suche nach etwas mehr Gelassenheit ist, der wird sie bei der Fahrt im Strich-Acht finden. Das Auto hilft dabei. Seit 50 Jahren.

(jan)
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