Kevelaer Kinder erleben Zeitzeugin des Holocaust

Kevelaer · Die Lehrer hatten überlegt, ob man mit Zehnjährigen bereits das schwierige Thema im Unterricht besprechen kann. Es war die richtige Entscheidung. Eva Weyl lieferte den Kindern plastische Eindrücke vom Leben der Juden in der NS-Zeit.

 Enger Kontakt: Die Kinder hatten keinerlei Berührungsängste mit Eva Weyl, die in der Antonius-Grundschule in Kevelaer von ihrer Zeit im Konzentrationslager Westerbork erzählte.

Enger Kontakt: Die Kinder hatten keinerlei Berührungsängste mit Eva Weyl, die in der Antonius-Grundschule in Kevelaer von ihrer Zeit im Konzentrationslager Westerbork erzählte.

Foto: Christian Brauers

Wenn 26 Schüler einer vierten Klasse 70 Minuten still auf ihren Plätzen sitzen und gebannt einer 82-jährigen Dame lauschen, dann ist das nicht selbstverständlich - vor allem aber sehr beeindruckend.

Die Klasse 4 b mit Klassenlehrerin Britta Janßen hat sich diese Zeit genommen, um Eva Weyl aus Amsterdam in den Unterricht einzuladen an die Antonius-Grundschule. Hier wollten die Kinder mit ihr über ihre Kindheitserlebnisse in Gefangenschaft und Konzentrationslager zu sprechen.

Die Trägerin des Bundesverdienstkreuzes entstammt einer jüdischen Familie, die ursprünglich in Kleve ein Kaufhaus besaß und ihre Wurzeln auch am Niederrhein hat. Seit vielen Jahren spricht sie mit großem Engagement an weiterführenden Schulen im Kreis Kleve vor jugendlichen Zuhörern, um an den Holocaust zu erinnern und davor zu warnen, dass "Auschwitz sich nicht wiederhole".

Aber sollte man dieses schwierige Thema auch mit Zehnjährigen zum Unterrichtsgegenstand machen? "Ja", meinten Lehrerin Britta Janßen und Eva Weyl, so dass dieser besonderen Begegnung nichts mehr im Wege stand.

Eva Weyl erzählte im Sitzkreis der 4 b ihre Geschichte: Nach der Machtübernahme Hitlers verließen ihre Eltern Kleve und zogen nach Arnheim, wo Eva Weyl geboren wurde, während ihre Großeltern trotz beginnender Judenverfolgung in Deutschland blieben. Nach der Eroberung der Niederlande durch die Nazis verlor die Familie Weyl ihre Freiheit und musste in das Konzentrationslager Westerbork bei Groningen. Dort wurden die Juden interniert, und die kleine Eva musste viele Entbehrungen hinnehmen: Schlafbaracken mit mehrstöckigen Betten, unwirtliche Toilettenanlagen, Schlamm und Morast bei schlechtem Wetter.

Aber Westerbork war auch bekannt als Lager des "schönen Scheins": Es gab eine Schule für die Kinder des Lagers, welche die kleine Eva besuchte. Sogar Kabarettaufführungen fanden auf Geheiß des Kommandanten Gemmecker statt, und kein Jude wurde in Westerbork von den Nazis gewaltsam getötet. Die tödliche Gefahr lauerte allerdings auf den Gleisen, denn einmal pro Woche schickte der Kommandant 1000 Lagerinsassen in Viehwaggons Richtung Osten, häufig direkt in ein Vernichtungslager - wie zum Beispiel Auschwitz - und damit in den sicheren Tod.

"Aber wir haben mehrfach Glück gehabt", erklärte Eva Weyl ihren aufmerksamen Zuhörern und schilderte die aufwühlenden Begebenheiten kindgerecht und einfühlsam. "Meine Eltern haben mich beschützt. Und jetzt habe ich selber Kinder und Enkelkinder - meine Geschichte hat ein Happy End."

Eva Weyl erzählte lebendig und hatte großformatige Bilder im Gepäck, die von der Klasse an die Tafel geklebt wurden. Auf diese Weise wurde der Lebensweg der kleinen Eva ausdrucksstark nachgezeichnet. Immer wieder gab es längere Erzählpausen, in denen die Schüler Fragen stellten oder von den Kriegsgeschichten in ihren eigenen Familien berichteten.

Eva Weyl war begeistert: "Was für eine gute Frage ...", sagte sie häufiger. "Es ist so wichtig, dass ihr mit euren Großeltern und Urgroßeltern über die Vergangenheit sprecht, damit so etwas heute nie wieder passiert." Man merkte der Klasse an, dass sie sich gründlich auf den Besuch vorbereitet hatte.

Die 4 b bedankte sich mit einem selbst gestalteten Plakat mit dem "Gedicht vom Licht", das die Klassensprecher Ella und Simon überreichten. "Das Plakat bekommt einen Ehrenplatz in meiner Wohnung in Amsterdam", zeigte sich Eva Weyl sichtlich gerührt.

Auch die Schüler waren sehr beeindruckt. "Ich glaube, wir haben alle noch etwas dazugelernt - und zwar miteinander und nicht gegeneinander", fassten die Kinder ihre Eindrücke treffend zusammen.

(RP)
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