Kevelaer Das Jahrhundert-Unglück

Kevelaer · Heute vor 25 Jahren, am 24. Mai 1993 um 2.27 Uhr, stürzte der Kirchturm von Sankt Maria Magdalena Goch ein. Nur um wenige Stunden entgingen 300 Gläubige einer Katastrophe. Genau zehn Jahre später wurde der neue Turm aufgesetzt.

 Das erste Luftbild des eingestürzten Kirchturms, aufgenommen von RP-Fotograf Gottfried Evers. Pilot Heinz Schoemakers musste sich zunächst orientieren, um die Pfarrkirche zu finden. Sein Orientierungspunkt, der Kirchturm, war nicht mehr an Ort und Stelle.

Das erste Luftbild des eingestürzten Kirchturms, aufgenommen von RP-Fotograf Gottfried Evers. Pilot Heinz Schoemakers musste sich zunächst orientieren, um die Pfarrkirche zu finden. Sein Orientierungspunkt, der Kirchturm, war nicht mehr an Ort und Stelle.

Foto: Evers Gottfried

24. Mai 1993, 2.27 Uhr: Ein historischer Augenblick in der Geschichte der Stadt Goch, die Minute, in der der Kirchturm der Maria-Magdalena-Kirche einstürzte. Ein Jahrhundert-Unglück, das den Namen der Stadt weltweit in die Schlagzeilen katapultierte. Heute vor 25 Jahren herrschte fassungsloses Entsetzen, der Tertiarinnenplatz wurde, wie es im RP-Bericht heißt, "zur Pilgerstätte des Chaos: Tausende kamen, viele weinten".

 Am Tag der Katastrophe: RP-Fotograf Klaus-Dieter Stade blickt vom Inneren des Kirchenschiffs auf das restlos verwüstete, mit Trümmern übersäte Marienschiff.

Am Tag der Katastrophe: RP-Fotograf Klaus-Dieter Stade blickt vom Inneren des Kirchenschiffs auf das restlos verwüstete, mit Trümmern übersäte Marienschiff.

Foto: Stade Klaus Dieter

Der erste Mensch, der das apokalyptische Bild der Zerstörung sah, war der damalige Magdalena-Pastor Johannes Baptist Ludes. Er erzählte: "Ich wurde um genau 2.27 Uhr von einem trockenen Knall geweckt. Mein erster Gedanke war: Da sind irgendwo Einbrecher". Doch als er sein von riesigen Steinbrocken restlos verwüstetes Arbeitszimmer betrat, wusste er: "Da ist mehr passiert". Der Seelsorger eilte im Nachthemd vor die Tür und stand vor einer gigantischen Staubwolke, die minutenlang die Sicht versperrte. Als der Blick dann frei wurde, schämte sich der Pastor seiner Tränen nicht: Der 70 Meter hohe Kirchturm war in sich zusammengesackt, hatte die Orgelempore zerschmettert und war über das seitliche Marienschiff abgekippt auf das benachbarte Pfarrhaus und die daneben stehende Garage, in der zwei Autos in Einzelteile zerlegt wurden. Die Umgebung der damals 650 Jahre alten Pfarrkirche war mit Trümmern übersät, ein meterhoher Berg aus zerschmetterten Steinen und Hölzern versperrte den Weg, das Turmkreuz flog hinter das Pfarrhaus an die Niers, die fünf Glocken lagen verstreut inmitten der Überreste. "Alte Gocher haben mir erzählt, dass die Kirche nach dem Luftangriff der Alliierten am 7. Februar 1945 nicht so schlimm ausgesehen hat", berichtete Ludes später.

Dabei hatte die Stadt Goch noch Glück im (Jahrhundert-)Unglück, weil der Einsturz mitten in dieser Montagnacht keine Menschenleben kostete. Eine Beinahe-Katastrophe: "Nicht auszudenken, was hätte passieren können", sagte der Dechant, der von 1970 bis 1994 Pfarrer der Magdalena-Kirche war und am 20. Mai 2014 im Alter von 88 Jahren starb: Nur wenige Stunden zuvor hatten 300 Gläubige in Gochs ältester Pfarrkirche die Sonntagabendmesse gefeiert. "Da wäre keiner mehr lebend herausgekommen", sagte Ludes, als er am Vormittag des 24. Mai 1993 mit den RP-Berichterstattern vor der in Einzelteile zerlegten Orgelempore im Kirchenschiff stand. Auch er selbst, seine Haushälterin Renate Schmidt und der Kaplan Hubertus Krampe waren nur um wenige Meter dem Tod entronnen, denn das dem Erdboden gleichgemachte Arbeitszimmer war nur meterweit von den Schlafstätten entfernt.

Hubertus Krampe sagte: "Wir können nur dem lieben Herrgott dankbar sein, dass wir alle lebend davongekommen sind". Der Kaplan hatte an dem Tag seinen 33. Geburtstag gefeiert, Pastor Ludes schenkte ihm ein theologisches Buch und fügte nachträglich eine Widmung ein, geschrieben in blutroter Tinte: "Der Tag, an dem die Kirche einstürzte".

Schon am Vormittag wurde der mit einer dicken Staubschicht bedeckte Kirchplatz mit Metallzäunen abgesperrt, Ordnungskräfte sicherten den Bereich, eine Kommission von Gutachtern der Diözese Münster und Denkmalschützer machten sich auf den Weg nach Goch, um herauszufinden, warum es zu dem spektakulären Einsturz des 68 Meter hohen Turms kam, auf dem ein vier Meter hohes Kreuz und ein 1,05 Meter hoher Hahn thronten, so dass sich eine Gesamthöhe von 73,05 Metern errechnete. Doch die Experten standen vor einem Rätsel, kamen viel später zu dem Ergebnis, dass eine Summe von unglücklichen Umständen zu einer Kettenreaktion geführt hatte, an deren Ende der Kirchturm in sich zusammengefallen war. Übrigens wurde der Sachschaden seinerzeit auf 20 Millionen Mark geschätzt. Drei Monate sollten alleine die Aufräumarbeiten mit Hilfe eines 40 Meter hohen Krans dauern.

Der Rest ist Geschichte: Fast genau zehn Jahre nach dem Unglück, am 13. März 2003, hatte der neue Turm um 10.45 Uhr seinen Platz gefunden. Die Kosten waren seinerzeit mit 6,7 Millionen Mark veranschlagt worden, Architekt Heinz Wrede hatte den Auftrag umgesetzt, keinen Turm "wie früher" zu errichten, sondern einen schlanken, moderneren, dem man ansieht, dass er Ende des 20. Jahrhunderts aufgesetzt wurde, mit zeitgemäßer Konstruktionsweise, die einen Schwingungsausgleich für das Glockengeläut beinhaltet. Am 24. Mai 2003 wurden Kreuz und Wetterhahn auf der Spitze angebracht und der damalige Pastor Gerhard Hendricks weihte den Turm ein. Aber der eigentliche Schlusspunkt wurde erst am 22. November 2015 gesetzt, als die von der Kevelaerer Orgelbaufirma Seifert gebaute neue Orgel zum Fest Christkönig geweiht wurde.

(RP)
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