Stadt Kempen Zeitzeugen berichten von Kempen unter dem Hakenkreuz

Stadt Kempen · "Nationalsozialismus in Kempen" heißt das gerade erschienene Buch, in dem am Beispiel einer niederrheinischen Kreisstadt die Verstrickungen der Menschen in das NS-System beschrieben wird. Der Autor hat 76 Zeitzeugen befragt.

 Ein wichtiger Zeitzeuge, den Hans Kaiser für sein Buch befragte, ist der Kempener Ferdinand Sturm.

Ein wichtiger Zeitzeuge, den Hans Kaiser für sein Buch befragte, ist der Kempener Ferdinand Sturm.

Foto: Hüskes

Wie will man erfahren, wie es unter den Nationalsozialisten wirklich zuging? Als Anfang März 1945 die US-Panzer am Niederrhein vorrollten, flammten in den Hinterhöfen der Rathäuser Aktenberge auf. Alles, was jemanden hätte belasten können, wurde in Brand gesteckt. Was in der Hektik der "Stunde Null" nicht beseitigt werden konnte, vernichtete man später. Erhalten blieb nur das Schriftgut einer gefürchteten Behörde, die bis zum Schluss an den "Endsieg" glaubte: 70.000 Akten der Geheimen Staatspolizei. Sie lagern heute im Landesarchiv. Bei Druckereien und Verlagen fanden sich Jahrgänge nationalsozialistischer Tageszeitungen. Gelegentlich blieben in Aktenordnern Schriftstücke zurück, die man falsch abgeheftet oder übersehen hatte. Und Menschen waren da, die berichten konnten über die zwölf Jahre des "Dritten Reiches".

76 Zeitzeugen erzählten mal ausschweifend, mal präzise

Gestapo-Akten, Zeitungsbände, sporadische Aktenfunde und die Erinnerungen von Zeitzeugen. Dazu kamen die Akten, die bei der "Entnazifizierung" ehemaliger Parteigenossen angelegt wurden und wertvolle Aufschlüsse gaben, meist auch Entlastung. Das waren meine Quellen bei der Erarbeitung eines Buches über den Nationalsozialismus in Kempen. Überlieferung auf Papier boten zahlreiche Archive, wie das Militärarchiv Freiburg oder das Landesarchiv Düsseldorf, vor allem aber das Archiv des Kreises Viersen und das Kempener Stadtarchiv, in der Kempener Landesburg akkurat verzeichnet und präzise geordnet aufbewahrt. Und dann die Zeitzeugen: 76 haben mir seit 2005 geholfen, mit ihren umfangreichen Informationen den ersten Band von "Kempen unterm Hakenkreuz" zu erstellen. 21 von ihnen sind mittlerweile gestorben.

In den Köpfen der Zeitzeugen existieren die Erinnerungen meist bruchstückhaft, vergleichbar mit filmischen Momentaufnahmen. Aufgabe des Historikers ist es, sie mithilfe schriftlicher Quellen in einen gesicherten Zusammenhang zu bringen. Die Befragung von Zeitzeugen ist in der Regel zeitaufwändig. Alte Menschen erzählen gern von der Vergangenheit, kommen vom Hölzchen aufs Stöckchen. Einige aber erinnern sich wohltuend knapp und präzise und sind vor allem höchst kooperativ. Wie Kempens Alt-Bürgermeister Karl-Heinz Hermans: Eine Zeitlang schob er den Gang ins Bett so lange auf, bis am späten Abend mein Anruf mit der Bitte um Informationen gekommen war. Oder der unermüdliche Webermeister Ferdinand Sturm, 1922 geboren. Auf meine leiseste Andeutung hin mobilisierte er ganze Kohorten von Einwohnern, um Details aus der Zeitgeschichte der Vaterstadt zu klären.

Hitlerjugend und SA störten Gottesdienst

Als die Nazis an die Macht drängten, war Sturm Mitglied der katholischen Jugend, der Jungschar. Wie die durch die Hitlerjugend terrorisiert wurde, hat er noch gut im Kopf: "Am 27. Oktober 1935 feierten wir in der Pfarrkirche das Christkönigfest — eine Demonstration gegen den Atheismus der Nazis." Aber die Messe wird durch Hitlerjungen und einen SA-Mann gestört; Sturm nennt Namen. Eine Anzeige des Pfarrers bringt nichts. Nach zahlreichen Schikanen wird der katholische Jugendverband im Februar 1936 verboten.

Da ist andererseits Franz Hauzeur, Ortsgruppenleiter von 1933 bis 1936. In Kempen hat er einen entscheidenden Anteil an der Gleichschaltung der Vereine und Verbände gehabt. Ende November 1938 wird er überraschend seiner zahlreichen Funktionen enthoben. Die 1993 erschienene Kempener Stadtgeschichte legt als Ursache Unterschlagungen nahe. Eine Düsseldorfer Akte aber stellt klar: Franz Hauzeur hat seine Beziehungen genutzt, um den 93 Jahre alten Juden Simon Winter, in der Pogromnacht des 10. November 1938 von Kempener SA schwer misshandelt, im Krankenhaus unterzubringen, bis sein emigrierter Sohn Dr. Karl Winter ihn in die Niederlande nachholen kann. Wie in der Familie Hauzeur heute noch berichtet wird, hat der Ex-Ortsgruppenleiter den greisen Juden in der Dunkelheit auf den Gepäckträger seines Fahrrads gehievt und in Sicherheit gefahren. Fazit: In der Geschichte gibt es kein Schwarz oder Weiß — die Wahrheit liegt meist in der Mitte.

(hk-)
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