Klanghaltestelle Fussnoten Zur Fastenzeit (6) Von der Erschütterbarkeit des Seins

Kempen · Vor ein paar Wochen in der Wiener Kunsthalle. Auf der Treppe zu den Ausstellungssälen werde ich von Musik empfangen: Das Orchestervorspiel zum Eingangschor der "Matthäuspassion" von Johann Sebastian Bach. Bin innerlich erregt und ergriffen zugleich. Ich folge der Tonspur, möchte wissen, woher die Musik kommt oder genauer: Wohin mich diese Musik führen wird. Aber kaum im ersten Raum angekommen, ist sie schon verklungen. Also wende ich mich erst einmal den hier zu sehenden Gemälden, Collagen und der Videokunst von Marcel Odenbach zu. - Der in Köln geborene Künstler widmet sich in seinen Arbeiten der Frage, wie sich die historische Erinnerung durch ihre bildliche, klangliche und schriftliche Überlieferung in Darstellung und Wahrnehmung über die Jahre hinweg verändert hat. Odenbach setzt sich auch intensiv mit dem Missbrauch des Geschichtsgedächtnisses durch Ideologien und Medien auseinander. - Dann auf einmal wieder diese bewegende Musik der Streicher. Jetzt ist sie ganz nahe, sozusagen wie gerade um die Ecke. Ich folge der Klangfährte und bleibe berührt stehen. Bachs "Kommt ihr Töchter, helft mir klagen" begleitet eine Szene von Odenbachs Film "In stillen Teichen lauern Krokodile". Die bewegten Bilder thematisieren die Ereignisse rund um den Völkermord von Ruanda im Jahre 1994. Aber es werden keine Gräueltaten gezeigt, keine Leichenberge. Zu sehen sind nur Alltagsszenen, mitunter die Schönheit einer Landschaft. Dennoch scheint über alldem eine Ahnung von diesem Grauen zu liegen: ein Nebelschleier unsäglicher Traumata von Tod und Leid, noch im ungefähren: eine scharf umrissene Spur von Trauer. So weit entfernt die Musik Bachs von Ort und Zeit dieser Geschehnisse auch sein mag. In der Tonspur der "Matthäuspassion" scheinen sich immer wieder menschliche Erfahrungen von Trauer, Leid, Schmerz und Erschütterung wie in einem Fokus zu bündeln. Bachs Passion scheint selbst so etwas wie ein geschichtliches und kulturelles Gedächtnis zu sein, das sich, einer Furche gleich, ganz tief in unserem Inneren eingegraben hat. Dieser Tonspur in der Stille des eigenen Denkens zu folgen, heißt, seinen Blick freizulegen auf die Erschütterbarkeit des Seins. Marcell Feldberg

 Flüchtlingsstrom im Juni 1994: Rund 250.000 Ruander waren nach Ausbruch der Kämpfe in Ruanda innerhalb von 24 Stunden nach Tansania geflüchtet.

Flüchtlingsstrom im Juni 1994: Rund 250.000 Ruander waren nach Ausbruch der Kämpfe in Ruanda innerhalb von 24 Stunden nach Tansania geflüchtet.

Foto: DPA

Vor ein paar Wochen in der Wiener Kunsthalle. Auf der Treppe zu den Ausstellungssälen werde ich von Musik empfangen: Das Orchestervorspiel zum Eingangschor der "Matthäuspassion" von Johann Sebastian Bach. Bin innerlich erregt und ergriffen zugleich. Ich folge der Tonspur, möchte wissen, woher die Musik kommt oder genauer: Wohin mich diese Musik führen wird. Aber kaum im ersten Raum angekommen, ist sie schon verklungen. Also wende ich mich erst einmal den hier zu sehenden Gemälden, Collagen und der Videokunst von Marcel Odenbach zu. - Der in Köln geborene Künstler widmet sich in seinen Arbeiten der Frage, wie sich die historische Erinnerung durch ihre bildliche, klangliche und schriftliche Überlieferung in Darstellung und Wahrnehmung über die Jahre hinweg verändert hat. Odenbach setzt sich auch intensiv mit dem Missbrauch des Geschichtsgedächtnisses durch Ideologien und Medien auseinander. - Dann auf einmal wieder diese bewegende Musik der Streicher. Jetzt ist sie ganz nahe, sozusagen wie gerade um die Ecke. Ich folge der Klangfährte und bleibe berührt stehen. Bachs "Kommt ihr Töchter, helft mir klagen" begleitet eine Szene von Odenbachs Film "In stillen Teichen lauern Krokodile". Die bewegten Bilder thematisieren die Ereignisse rund um den Völkermord von Ruanda im Jahre 1994. Aber es werden keine Gräueltaten gezeigt, keine Leichenberge. Zu sehen sind nur Alltagsszenen, mitunter die Schönheit einer Landschaft. Dennoch scheint über alldem eine Ahnung von diesem Grauen zu liegen: ein Nebelschleier unsäglicher Traumata von Tod und Leid, noch im ungefähren: eine scharf umrissene Spur von Trauer. So weit entfernt die Musik Bachs von Ort und Zeit dieser Geschehnisse auch sein mag. In der Tonspur der "Matthäuspassion" scheinen sich immer wieder menschliche Erfahrungen von Trauer, Leid, Schmerz und Erschütterung wie in einem Fokus zu bündeln. Bachs Passion scheint selbst so etwas wie ein geschichtliches und kulturelles Gedächtnis zu sein, das sich, einer Furche gleich, ganz tief in unserem Inneren eingegraben hat. Dieser Tonspur in der Stille des eigenen Denkens zu folgen, heißt, seinen Blick freizulegen auf die Erschütterbarkeit des Seins. Marcell Feldberg

Die Links zur Musik: www.youtube. com/watch?v=6As1Pvz-mHs und zum Video: vimeo.com/46319741

(RP)
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