Stadt Kempen Vom Leben der Menschen im Krieg

Stadt Kempen · Gestern wurde im Kreisarchiv der zweite Band von Hans Kaisers Buch "Kempen unterm Hakenkreuz" vorgestellt. Der Historiker versteht seine Arbeit nicht als Anklage, sondern als Mahnung und Ermutigung zur Selbstbefragung.

 Autor Dr. Hans Kaiser (Mitte) mit Kreisdirektor Dr. Andreas Coenen (links) und Kreisarchivar Dr. Gerhard Rehm in der Kempener Burg.

Autor Dr. Hans Kaiser (Mitte) mit Kreisdirektor Dr. Andreas Coenen (links) und Kreisarchivar Dr. Gerhard Rehm in der Kempener Burg.

Foto: WOLFGANG KAISER

Wenn man das Buch durchblättert und etwa auf Seite 653 auf das Foto vom 3. März 1945 stößt, wo zwei amerikanische GIs vor der zerschossenen Sparkassenuhr am Platz der SA posieren, beschleicht den Betrachter ein komisches Gefühl. Und wenn man heute am Viehmarkt vorbeikommt, ist man froh, dass diese Zeit schon 70 Jahre vorbei ist und der Frieden bis heute gehalten hat. Nach Rückmeldung der Buchhändler sind viele Kempener schon sehr neugierig auf den zweiten Band von "Kempen unterm Hakenkreuz". Der Autor Dr. Hans Kaiser, ein pensionierter Lehrer und Historiker aus Kempen, hat zwölf Jahre an diesem Doppelband gearbeitet - "für lau", wie Kreisarchivar Dr. Gerhard Rehm betonte. Kaiser will mit seinen Ausführungen zur NS-Zeit in Kempen niemanden an den Pranger stellen, sondern die Zeitumstände für die nachfolgenden Generationen verstehbar machen. Er will kein Ankläger sein, sondern ist ganz Pädagoge. Und er warnt davor, zu schnell den moralischen Zeigefinger zu heben. Jeder solle sich vielmehr selber fragen, wie er damals gehandelt hätte: "Ob sie gegen die Einflüsse einer einfallsreich gesteuerten Politik Beruf, Familie und körperliche Unversehrtheit aufs Spiel gesetzt hätten."

Die über zehn Jahre Arbeit an diesem Buch sind nicht spurlos an Hans Kaiser vorübergegangen. Immer wieder haben ihn Einzelschicksale betroffen gemacht, Etwa das der Jüdin Selma Bruch an der Vorster Straße 2. Mit ihren kleinen Kindern und ihrer Mutter stand sie am Abend der Pogromnacht vor ihrem Haus und musste ansehen, wie Polizisten und SS-Männer Möbel, das Klavier und die Oberbetten durchs Fenster auf die Straße warfen.

Im zweiten, jetzt erschienenen Buch steht das Kapitel "Tod und Terror" im Zentrum. Darin werden die Verfolgung und Ermordung der Juden aus Kempen und St. Hubert beschrieben, aber auch Zwangssterilisation und Euthanasie, das Schicksal der Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter sowie die Verfolgung der Menschen, die ihr Leben aus politischen Gründen verloren. Durch den Krieg sind einschließlich der Soldaten mehr als sechs Prozent der Einwohner Kempens ums Leben gekommen.

Passend zum Kriegsende vor genau 70 Jahren stellt Kaiser die militärischen Operationen präzise dar, insbesondere die militärischen Abläufe am Niederrhein. In einem umfangreichen Kapitel wird aber auch das alltägliche Leben der Menschen im Krieg dargestellt. So zieht der Martinsumzug 1943 bei hellem Tageslicht durch die Innenstadt, und kaum ist er beendet, gibt es Luftalarm. Angriffsziele waren vor allem der Eisenbahnknotenpunkt und die Eisenmöbelfabrik Arnold, die Bugkanzeln für einen riesigen Lastensegler herstellte.

Bisher gar nicht bekannt war der Kempener Pionierpark zwischen Kleinbahn- und Hugo-Herfeldt-Straße. Es handelt sich dabei um ein umfangreiches Magazin zum Bau und zur Ausrüstung der Bunker am "Westwall". Recht unbekannt in Kempen ist auch eine Spezialeinheit der Waffen-SS, die im Sommer 1944 aufgestellt wurde. Das Propaganda-Bataillon Skorpion West betrieb eine neue, ausgefallene Art der Beeinflussung von Soldaten, den deutschen wie den feindlichen. In Kempen wurde die Frontzeitung "Skorpion" gedruckt. Ihre Texte, brillant formulierte Durchhalte-Artikel, schrieb SS-Obersturmführer Joachim Fernau, nach dem Krieg ein Bestsellerautor. Zu den Aufgaben dieser Propaganda-Einheit gehörte es auch, Flugblätter, die in Kempen in der Thomasdruckerei hergestellt wurden, in spezielle Granaten zu füllen. Diese wurden dann über den alliierten Stellungen verschossen. Wegen der nötigen Fremdsprachen dienten dort auch Amerikaner, Engländer, Franzosen und Niederländer. Vom Spätsommer 1944 an löst sich nach und nach die NS-Infrastruktur auf, jetzt treffen Verwundetentransporte und Truppen auf dem Rückzug in Kempen ein.

Kreisdirektor Dr. Andreas Coenen wünschte gestern dem Buch eine breite Leserschaft. Dem kann man sich nur uneingeschränkt anschließen.

(RP)
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