Blick in die Glaskugel: Kempen im Jahr 2043 Kultur und Tradition das ganze Jahr über

Kempen · Udo Schiefner wagt einen Blick in die Zukunft und hat viele gute Nachrichten.

 Udo Schiefner vor den Kempener Lichtspielen am Buttermarkt: In dem Kino könnte 2043 ein 3-D-Hologramm-Theater der digitalen Extraklasse sein.

Udo Schiefner vor den Kempener Lichtspielen am Buttermarkt: In dem Kino könnte 2043 ein 3-D-Hologramm-Theater der digitalen Extraklasse sein.

Foto: Norbert Prümen

Vor der Tür wartet ein kleiner Lieferroboter, wahrscheinlich schon die halbe Nacht. Jetzt, wenn ich mich nähere, öffnet sich seine Klappe, und er reicht mir ein Paket. Anschließend fährt er geräuschlos sein nächstes Päckchen holen. Ich verstehe noch immer nicht, wie diese Biometriescanner mich sofort erkennen, wenn ich in ihre Nähe komme. Überall begrüßen mich sich öffnende Türen höflich mit Namen und erklären mir, wo ich hin muss. Es ist schon komisch, dass all diese Geräte mehr über mich, meine Gesundheit oder meine nächsten Termine wissen, als ich selbst. Aber es macht das Leben auch sehr bequem.

Zum nächstgelegenen Parkplatz ist es ein ganzes Stück. Dank meines neuen kybernetischen Exoskeletts fällt mir das Laufen trotz meines Alters leichter als in den 2020er-Jahren. So genieße ich den kleinen Spaziergang in der wunderbar frischen und glasklaren Luft. Ich mache einen Abstecher über den Buttermarkt. Das Eiscafé dort gehört noch immer zu meinen Lieblingszielen, zu jeder Tageszeit. Als ich eintrete, füllt die Bedienung hinterm Tresen gerade eine der Kühldrohnen des Cafés für eine frische Lieferung. Es ist schön, dass hier keiner dieser vielarmigen Bedienroboter die Eiskugeln in die Waffeln füllt. Ich habe ja Zeit, so wie die meisten.

Seit die tägliche Höchstarbeitszeit gesetzlich auf sechs Stunden begrenzt wurde, haben alle mehr Zeit. Deshalb genieße ich den Trubel auf dem Buttermarkt. Junge Menschen begleiten Senioren in Hoverstühlen, nicht weil sie die Stühle schieben müssten. Die heutigen Hoverstühle gleiten von ganz allein. Nein, die jungen Leute sind dabei, weil sie offenbar Zeit dafür und Freude daran haben.

Vor wenigen Jahren noch war die Stadt angefüllt mit den kleinen Paketdrohnen, die hin und her flitzten. Das hat zum Glück deutlich nachgelassen. Man geht in Kempen gern wieder einkaufen. Dem Einzelhandel und dem Gemeinschaftsgefühl in der Stadt tut das merklich gut. Der Werbering Kempen bereitet sich gerade auf sein 75. Jubiläum vor. Das wird ein großes Fest und ich freue mich, dass ich gebeten wurde, eine Festrede zu halten. Der zweite Festredner wird der heutige Leiter der Königkekskempen-Werke sein. Er wird sicher wieder berichten, wie die ehemaligen Mitarbeiter damals aus der 2021 abgewickelten Keksfabrik mit riesen Enthusiasmus und viel Mut ihr heute weltweit führendes Keksimperium aufbauten. Ich höre die Geschichte immer wieder gern.

 Alle drei Jahre gibt es in Kempen den Rosenmontagszug. Der Mottowagen sind inzwischen veraltet. Die Stimmung darauf aber bestens.

Alle drei Jahre gibt es in Kempen den Rosenmontagszug. Der Mottowagen sind inzwischen veraltet. Die Stimmung darauf aber bestens.

Foto: Wolfgang Kaiser

Es ist auch schön, mit anzusehen, dass die Leute sich ansehen und miteinander sprechen. Ende der 2010er-Jahre hatten alle nur noch in kleine Kistchen gestarrt. Gut, von den Daten-Kontaktlinsen kann man sich auch heute noch ablenken lassen, aber man läuft nicht aus Versehen gegen Laternenpfähle.

Mein weiterer Fußweg führt mich an der ehemaligen RP-Redaktion vorbei. Kaum zu glauben, dass man dort früher saß und eine gedruckte Zeitung gefüllt hat. Die RP und ihre Redakteure gibt es selbstverständlich noch heute. Sie sind aber alle immer unterwegs auf den Straßen, bei den Menschen. Ihre kurzen Textbeiträge, Schlagzeilen und vor allem Videos schicken sie mobil online. Als treuer Abonnent bekomme ich regelmäßig Hinweise zu neuen Beiträgen auf meine Kontaktlinse gestreamt.

Als ich am Rathaus vorbei komme, frage ich mich, wann eigentlich zum letzten Mal ein Kempener Bürger seinen Fuß in das Gebäude gesetzt hat – abgesehen von den Rathausmitarbeitern, die dort den Innendienst erledigen. Als ich zum Beispiel vor drei Jahren den offiziellen Biometriescan für meine Identitätskarte machen musste, bat ich Alexa (ich nenne meinen Hausassistenten immer noch so, da bin ich Traditionalist) einen Termin mit dem Amt zu machen und keine drei Tage später kam der Bürgeramtsmitarbeiter zu mir nach Hause und wir erledigten alles Notwendige schnell und unkompliziert.

Bürgermeisterin Chemaly, die 2040 die Kommunalwahl unterstützt durch Sozialdemokraten und Grüne gewann, werde ich hier jetzt auch nicht treffen. Nach allem, was ich weiß, ist sie ihre sechs Stunden täglich fast immer in der Stadt unterwegs, meist zu Fuß und in Gespräche vertieft. Auch die Landrätin trifft man immer mal wieder hier an. Heute jedoch nicht. Nach kurzer Abfrage zeigt mir meine Linse, dass sie gerade in Willich unterwegs ist. Doch die neue Verwaltungshochschule NRW und ihr Campus rund um die Burg ziehen viele Kreispolitiker regelmäßig nach Kempen. Mittlerweile ist die halbe Stadt ein Hochschulcampus mit all den schönen und manchmal für Menschen meines Alters auch anstrengenden Folgen.

 Der Borussia-Park in Mönchengladbach: Udo Schiefner gehörte zu den Gründungsmitgliedern des Bundestags-Fohlen-Fan-Clubs.

Der Borussia-Park in Mönchengladbach: Udo Schiefner gehörte zu den Gründungsmitgliedern des Bundestags-Fohlen-Fan-Clubs.

Foto: Jana Bauch / Andreas Krebs

Kriminalität aber ist kein Problem in Kempen. Mit der Gerechtigkeitsinitiative der Bundesregierung aus dem Jahr 2027 einerseits und der umfassenden Drohnenüberwachung aller öffentlichen Flächen andererseits hat sich ein Gefühl allgemeiner Sicherheit und Zufriedenheit ausgebreitet. Natürlich gibt es noch immer Konflikte und die Rettungshover der Feuerwehr werden regelmäßig gerufen. Aber Diebstahl oder schwerere Körperverletzungen wurden mir schon seit Jahren nicht mehr angezeigt.

Die Hoverbikes der Polizei und die Rettungshover sind die einzigen motorisierten Fahrzeuge, die in der Stadt fahren dürfen. Die meisten Kempener und Kempenerinnen genießen es, zu Fuß durch ihre grüne Heimat zu schlendern. Einige nutzen aber auch traditionelle Fahrräder und es gibt eben die Hoverstühle für die, die darauf angewiesen sind. Verkehrslärm reduziert sich damit auf ein leises Surren oder ein klapperndes Schutzblech.

Ganz anders ist es, wenn der traditionelle Karneval durch die Stadt zieht. Große laute Laster und Traktoren ziehen die Motivwagen durch die Stadt. Die meisten der Fahrzeuge sind uralt, kommen selten zum Einsatz und sehen auch so aus. Einmal in drei Jahren darf das wohl sein. Es gibt keine Alternativen. Alle anderen Fahrzeuge, die es heute noch gibt, sind kleiner und auf individuelle Transporte über kurze Strecken ausgelegt. Alle längeren Wege und Gütertransporte werden auf Schienen oder mit den Tubes unter der Erde zurückgelegt. Wollen wir also die klassische Karnevalstradition erhalten, müssen wir unsere Lkw pflegen.

Kultur und Tradition bietet Kempen aber das ganze Jahr über. Vor allem das ehemalige Kino am Buttermarkt ist heute ein weit über unsere Stadtgrenzen hinaus bekanntes Schauspielhaus geworden. In einer Theaterkooperation mit Krefeld/Mönchengladbach wurde ein 3-D-Hologramm-Theater der digitalen Extraklasse geschaffen, das seinesgleichen sucht. Vor allem die Aufführungen der Kinderkompanie begeistern mich immer wieder. Als eine der kinderreichsten Städte Nordrhein-Westfalens hat Kempen unglaubliche Talente auf der Bühne. Viele Kinder sehe ich auch auf meinem Weg durch das hochmoderne Kempen-West. Offensichtlich fühlen sich junge Familien hier noch immer besonders wohl.

Am Parkplatz vor der Stadt nehme ich mir ein Auto. Einen Golf XII. Der fühlt sich noch immer an, wie ein richtiges Auto. Die jungen Leute fahren heute ja lieber mit den nordkoreanischen Hochgeschwindigkeitsflundern, die mehr an eine Hängematte erinnern. Ich fahre gern etwas gemächlicher. So lassen sich die saftigen Felder und Wiesen rundherum besser bestaunen. Ich bin immer wieder überrascht, wie unsichtbar die Felder heute bestellt werden. Man muss schon aussteigen und direkt rein gehen, will man die Herrscharen spinnenartiger Drohnen sehen, die hier pflanzen, wässern und ernten.

Ich fahre nach Mönchengladbach zu einem Treffen ehemaliger Politiker. Eigentlich macht man sowas nicht. Wozu haben wir denn die Konferenz-App in der Kontaktlinse? Heute aber hat die Borussia unseren Bundestags-Fohlen-Fan-Club zur Meisterfeier geladen. Da kann ich nicht fehlen.

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