Serie 725 Jahre Stadtrechte für Kempen (8) Das Amt Kempen und seine Honschaften

Kempen · Es gab im Mittelalter nicht nur die Stadt Kempen. Mindestens so wichtig wie sie waren die Landgemeinden, die sie umgaben – die Honschaften. Erst allmählich hat die Stadt sich aus der Abhängigkeit von ihrem Umland emanzipiert.

 Ein Denkmal der alten Kempener Honschaften: Das Spritzenhäuschen der Broicher Honschaft, 2001 originalgetreu wieder aufgebaut von den St. Huberter Feuerwehrmännern auf Initiative ihres damaligen Löschzugführers Wilhelm Hoogen (rechts).

Ein Denkmal der alten Kempener Honschaften: Das Spritzenhäuschen der Broicher Honschaft, 2001 originalgetreu wieder aufgebaut von den St. Huberter Feuerwehrmännern auf Initiative ihres damaligen Löschzugführers Wilhelm Hoogen (rechts).

Foto: Wolfgang Kaiser

Eigentlich ist Kempen ein Landei. Es war in seinen ältesten Zeiten ein ländlich geprägtes Dorf ohne eigene Selbstverwaltung. Dieses Dorf Kempen war, was Gerichtsbarkeit und Steuereinziehung anging, den umliegenden bäuerlichen Landgemeinden unterstellt – den Honschaften. Noch um 1600 war aktenkundig, dass das Gebiet der Stadt ursprünglich zu zwei Honschaften gehörte hatte: im Westen zur Honschaft Schmalbroich, im Osten zur Honschaft Broich. Die alte Grenze zwischen diesen beiden Honschaften wurde durch die Linie Peter­straße–Markt–Kuhstraße markiert. Erst seit 1294, als Kempen städtische Rechte erhielt und damit ein eigener Verwaltungsbezirk wurde, fing es an, sich aus der Abhängigkeit von den benachbarten Honschaften zu emanzipieren.

Honschaften waren bäuerliche Gemeinden, die im Auftrag des Erzbischofs von Köln bestimmte Verwaltungsaufgaben erledigten, ohne die der mittelalterliche Staat nun mal nicht funktionierte. „Honschaft“ leitet sich vom fränkischen Wort für „Hundertschaft“ ab. Die Distrikte der Kempener Honschaften waren deckungsgleich mit der Fläche ihrer Ackerländerei, von der die Bauern Steuern zahlten. Die großen Heide- und Waldgebiete gehörten nicht zu den Honschaften, sondern unterstanden unmittelbar dem Landesherrn, dem Erzbischof von Köln. Ihm dienten die Honschaften als Leistungsgemeinden. Sie zogen für ihn die Steuern und Abgaben ein, bauten und reparierten Straßen und Wege. Im Krieg führten sie mit ihren Pferdewagen für den Landesherrn Transporte durch, legten an den Grenzen Befestigungen aus Erde an. Auch sollten sie für Frieden und Rechtssicherheit in ihren Gebieten sorgen. Deshalb kamen sie für den Sold von Kriegsknechten auf, die das Land schützen sollten. Bei der Vollstreckung von Gerichtsurteilen leisteten sie noch im 16. Jahrhundert Hilfsdienste. War eine Arbeit durch die Honschaft verrichtet oder eine Amtshandlung vollzogen, wurde auf Honschaftskosten kräftig gezecht – auch nach Hinrichtungen.

 Kempen und seine Honschaften

Kempen und seine Honschaften

Foto: Petra Kamplade/Hans Kaiser

Die Hinrichtungen im Kempener Land fanden damals auf der Hupsheide statt, im „Dreiländereck“ zwischen St. Tönis, Kempen und Oedt. Zur Orientierung für den Leser: Auf der Hupsheide war bis in die 1970er Jahre die Wohnwagenfirma Thrun-Eicker beheimatet. Dort liegt heute der Firmensitz von Heinrich Hamelmann an der Butzenstraße. Auf der Hupsheide standen Galgen und Rad zur Hinrichtung der Missetäter, und zum Aufschichten der Scheiterhaufen karrten die Honschaften das Holz dahin. Eine Polizei gab es damals nicht, deshalb bekämpfte man Kriminalität durch drakonische Abschreckung. Daher verblieben die Leichen der Geräderten und Gehenkten noch lange auf der Richtstätte, wo sie verwesten. Ein schauriger Ort, den man lieber da anlegte, wo er nicht so ins Auge fiel, also an der Grenze. „Hupsheide“ bedeutet, ins Hochdeutsche übersetzt, „Hofesheide“, weil ihre Länderei zum erzbischöflichen Fronhof gehörte. Der lag an der Stelle der heutigen Burg und war in der ältesten Zeit der Verwaltungsmittelpunkt des Kempener Landes. Dort tagte ursprünglich auch das Gericht. Deshalb fanden die Hinrichtungen noch lange auf der Länderei des Fronhofes statt, der ja dem Gerichtsherrn, dem Erzbischof, gehörte.

An der Spitze jeder Honschaft stand ursprünglich ein so genannter Honne, der seine Gemeinde als Vorsteher nach außen und innen vertrat. Aber als die Behörden des Landesherrn, des Kurfürsten von Köln, an Macht und Einfluss gewannen, wurden die Honnen durch die Schöffen des Kurfürstlichen Gerichts verdrängt, das im Kempener Rathaus tagte. Seit dem späten 16. Jahrhundert wird bei Amtshandlungen jede der sechs Honschaften durch jeweils zwei Schöffen vertreten. Der Honne ist nunmehr auf die Funktion eines Steuereinziehers und Boten herabgesunken. Sein Amt wird als lästig empfunden, und jedes Jahr nimmt es ein anderer Hofbesitzer wahr.

 Die Honschaftsgrenze durchschneidet den Kempener Marktplatz

Die Honschaftsgrenze durchschneidet den Kempener Marktplatz

Foto: Petra Kamplade

Im Uhrzeigersinn aufgezählt gab es die Große Honschaft – später Gemeinde Vorst; die Honschaft Schmalbroich, die bis 1970 eine eigene Landgemeinde war; die Honschaften Broich und Orbroich, später Gemeinde St. Hubert; und Benrad. Im Süden lag die Kleine Honschaft, aus der sich die spätere Gemeinde St. Tönis entwickelte. Zusammen mit der Stadt Kempen bildeten diese ländlichen Verwaltungsbezirke das Amt Kempen, das an die 21.000 Morgen umfasste; vergleichbar etwa mit einem heutigen Landkreis. Erst 1798 wurden die bäuerlichen Verwaltungsgemeinden, die Honschaften, durch die Behörden der französischen Revolutionsregierung aufgehoben. Beispielsweise wurden Ende April 1798 die Honschaften Broich und Orbroich zu einer Gemeinde, französisch: Commune zusammengelegt, die nach ihrer Pfarrkirche den Namen St. Hubert erhielt. Auch Schmalbroich wurde 1798 zur Commune. – Die archivalische Überlieferung des Amtes Kempen und seiner Honschaften, wie sie im Kempener Stadtarchiv aufbewahrt wird, dürfte am Niederrhein einzigartig sein.

Verwaltungschef des Amtes Kempen und seiner sechs Honschaften war der in der Kempener Burg residierende Amtmann, ein adeliger Repräsentant des Landesherrn, des Erzbischofs von Köln. Als einer der sieben Kurfürsten wählte oder „kürte“, wie man damals sagte, der Erzbischof den deutschen König. Deshalb setzte sich für ihn seit dem 14. Jahrhundert mehr und mehr der Begriff „Kurfürst“ durch. Aus einer Urkunde geht hervor, dass das Amt Kempen mit seinen Honschaften bereits 1264 existierte. Das ist für das gesamte Rheinland sehr früh und hängt damit zusammen, dass das Kempener Land ein Grenzland zu den Grafschaften Geldern und Kleve war, die 1339 bzw. 1417 zu Herzogtümern erhoben wurden. Das heißt: In seiner frühen Zeit war das Kempener Land besonders bedroht und bedurfte rechtzeitig einer straffen Organisation durch seinen Landesherrn, den Erzbischof von Köln. Eine gut organisierte Verwaltung mit gesicherten Steuereinnahmen schuf dem Erzbischof für seine Herrschaft eine solide Grundlage. Somit ist anzunehmen, dass die Kempener Honschaften etwa zwischen 1200 und 1264 gebildet wurden, als der Kölner Erzbischof begann, seine Besitzungen und Herrschaftsrechte im Kempener Land zur kompakten Fläche des Amtes Kempen zu verdichten.

Der Verwaltungsbezirk des Amtes Kempen wurde durch so genannte Landwehren gesichert. Das waren Grenzbefestigungen, die aus Erdwällen und Gräben bestanden. Hier und da gab es eine Öffnung, um eine Straße durchzulassen. Solche Durchlässe nannte man „Mey“. Sie waren durch einen Schlagbaum gesichert und wurden ständig bewacht. An die alten Grenzübergänge erinnern heute noch die „Schadmey“ gegenüber der Gastendonk an der Tönisberger Straße in St. Hubert, die „Pielmey“ zwischen dem Schwarzen Rahm und dem Obsthof Pleines oder die „Hückelsmay“ am Forstwald in Krefeld.

Das Amt Kempen hatte das höchste Steueraufkommen im Kurfürstentum Köln. Ein Land der Fruchtbarkeit und des Fleißes. Lösslehmböden, die Nährstoffe binden und Wasser speichern, sorgten hier für ertragreiche Ernten. Diese Böden haben nach 1900 den Kempener Kohl berühmt gemacht und fördern heute den Anbau von Kartoffeln und Getreide. Auf den ebenen Flächen der Lössböden betrieben die Bauern schon damals, als es noch die Honschaften gab, eine intensive Feld- und Viehwirtschaft. Die wurde dadurch begünstigt, dass die Länderei der Höfe mit durchschnittlich 50 Morgen umfangreich war. Das ermöglichte eine rationale Bewirtschaftung, brachte gute Erträge und machte die Landwirte selbstbewusst. Aber es gab nicht nur Bauern im Umland der Stadt Kempen. Die beherrschenden Akzente im Land setzten die adeligen Höfe und Burgen, von Wassergräben umzogen, teilweise von wehrhaften Mauern mit Türmen umgeben wie Haus Velde in Schmalbroich, die Gastendonk bei St. Hubert, Haus Bockdorf in Unterweiden oder Haus Steinfunder an der Schleck, dem alten Grenzbach zwischen den kurkölnischen Ämtern Kempen und Oedt.

Mit dem zunehmenden Fortschritt in Wirtschaft und Technik wuchsen etwa seit 1770 auch die Aufgaben der Honschaften. Ein Beispiel: Bei der Brandbekämpfung wurden die Eimerketten durch Feuerspritzen ersetzt, die man in den Niederlanden kaufte oder durch heimische Handwerker anfertigen ließ. Die Spritzen brauchten Gebäude. 1779 baute die Broicher Honschaft ein Spritzenhaus in St. Hubert-Voesch, 1799 eines im Dorf St. Hubert. Weitere Spritzenhäuser, die man freilich nicht datieren kann, wurden in Orbroich errichtet, in Schmalbroich-Klixdorf und in Unterweiden bei Mengelshof. – Das Voescher Häuschen stürzte 1959 ein. Im Freilichtmuseum des Kreises Viersen, in der Dorenburg, erstand es wieder als Nachbau. 2001 hat der St. Huberter Feuerlöschzug in Eigenleistung und in enger Abstimmung mit dem Bauamt der Stadt Kempen eine originalgetreue Rekonstruktion neben seinem Gerätehaus an der Bendenstraße errichtet.

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