Serie: 725 Jahre Stadtrechte für Kempen (29) Vereine, die Geschichte machten

Kempen · Im 19. Jahrhundert entwickelt Kempen sich zu einer gesellschaftlich florierenden Stadt. Noch in der französischen Zeit ist der erste Verein gegründet worden. Weitere folgen unter der preußischen Verwaltung. Die drei ältesten bestehen noch heute.

 Das zweite Kolpinghaus am Hessenring. Es wurde 1981 abgerissen und durch den heutigen Neubau ersetzt.

Das zweite Kolpinghaus am Hessenring. Es wurde 1981 abgerissen und durch den heutigen Neubau ersetzt.

Foto: Fotoarchiv Werner Beckers

1806, also noch unter der bis 1814 andauernden französischen Verwaltung, wird in Kempen der erste Verein gegründet: die Gesellschaft Societé, Vorläufer des seit 1841 so genannten „Vereins Casino“. Ihr Zweck ist, vergleichbar mit einem englischen Klub, die Pflege komfortabler Geselligkeit für die Honoratioren der Stadt, oder, wie es in der damaligen Sprache heißt, „die Pflege des gesitteten Umgangs und des anständigen Vergnügens“. Vereinslokal ist seit 1842 das damalige Gebäude der heutigen Enger-Apotheke. Hier treffen sich Landrat, Bürgermeister, Juristen und Mediziner zum Gedankenaustausch, zur Lektüre überregionaler Zeitungen und zum Kartenspiel bei gepflegtem Wein. Um die Jahrhundertwende werden als Unterabteilungen Kegelklubs, eine Tennisabteilung und die Jagdgesellschaft „Horrido“ gegründet.

1901 zog der exklusive „Verein Casino“ in ein neues Klubhaus am Hessenring. Hier gab es bereits 1907 einen Tennisplatz. Um in den Genuss öffentlicher Mittel zur Sportförderung zu kommen, verselbstständigte sich 1954 die Tennisabteilung als Casino-Tennisclub (CTC). Der schloss sich 1961 mit der Muttergesellschaft zur Casino-Tennisgesellschaft zusammen. Seither wird die Gesellschaft Casino in Kempen mit dem Tennissport verbunden. 1976 wurde das alte Klubhaus am Hessenring für die Errichtung des Horten-Kaufhauses abgebrochen, nachdem der Klub an der Wachtendonker, heute Straelener Straße 45 ein neues Vereinszentrum mit Tennisanlage und Klubheim errichtet hatte.

 Links im Bild: Das 1976 abgerissene Casino-Klubhaus, rechts anschließend die Mädchenvolksschule.

Links im Bild: Das 1976 abgerissene Casino-Klubhaus, rechts anschließend die Mädchenvolksschule.

Foto: Nachlass Walter Schenk

Auf den Casino-Club folgt in der Reihe der Vereinsgründungen der Kempener Gesellenverein, die heutige Kolpingsfamilie. Deren Entstehung und Entwicklung hat die Kempener Historikerin Ina Germes-Dohmen 2006 zum 150. Geburtstag in ihrer Kolpings-Geschichte „Gott segne das ehrbare Handwerk“ dargestellt. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts, genauer: 1849, gibt es in Kempen 155 Handwerksgesellen. Viele sind Ortsfremde. Sie sind, wie damals üblich, auf der Walz und logieren nur für bestimmte Zeit in Kempen bei ihren Meistern. Von ihren Familien gelöst, wissen die meisten in der Freizeit nicht viel mit sich anzufangen. So streifen sie über die Straßen, hängen herum in den Wirtshäusern. Das ist damals in ganz Deutschland so. Da gründet am 6. Mai 1849 in Köln ein junger katholischer Geistlicher – Adolph Kolping – den Kölner Gesellenverein. Kolping ist selbst Schuhmachergeselle gewesen und hat auf seinen Wanderungen die menschenunwürdigen Lebensbedingungen der meisten Handwerksgesellen kennen gelernt. Viele von ihnen leben in tiefer Armut und erleiden sklavische Arbeitsausbeutung. Mit seinem Verein will Adolph Kolping den wandernden Gesellen einen ähnlichen Halt geben, wie ihn nur die Familie bietet. Dazu strebt er Gesellenhäuser an, in denen die jungen Handwerker sich religiös, politisch und fachlich weiterbilden können; hier sollen sie Geselligkeit erfahren.

Kolpings Idee kommt nach Kempen. Aus einem nebensächlichen Anlass: Bürgermeister Ferdinand Theodor Foerster schreibt den Kölner Domvikar an. Foerster will wissen, ob die Gesellen-Krankenkasse, die der Bürgermeister in Kempen gegründet hat, sich nicht dem 1849 gegründeten Kölner Verein anschließen könne. Kolping antwortet rasch. Sein Brief vom 5. April 1855 wird für Kempen von historischer Bedeutung. Nein, anschließen könne die Kempener Krankenkasse sich dem Kölner Verein nicht, schreibt der Gesellenvater, die Vereinssatzung ließe das nicht zu. Aber er regt etwas anderes an: „Wäre es nicht schön, wenn die jungen Leute in Kempen sich auch zu einem Verein zusammen thäten?“

Und so geschieht es: Am Himmelfahrtstag 1856, am 1. Mai, gründen 18 Gesellen unter Kaplan Kisselstein den katholischen Gesellenverein in Kempen. Nach mehrfachem Wechsel der Vereinslokale in Kempener Gaststätten bezieht der Verein am 18. November 1866 ein eigenes Haus an der heutigen Heilig-Geist-Straße – „für ewige Zeiten“, verkündet die Chronik. Aber das Gesellenheim genügt den wachsenden Ansprüchen nur 40 Jahre, 1907 zieht der Gesellen-Verein in einen Neubau an der Ecke Hessenring/Ölstraße um. In beiden Häusern findet ein reiches Vereinsleben statt: Vorträge und Feste, Theater, Turnen und bis zu sechs Karnevalssitzungen im Jahr. Vor allem eine Bildungseinrichtung, mit unentgeltlichen Abendkursen vieler Kempener Lehrer. Bald wird, da alle Familienmitglieder einbezogen werden, aus der reinen Männergesellschaft die Kolpingsfamilie. Offiziell wird der Begriff erst 1933. Ab 1966 dürfen dem Verein auch Frauen und Mädchen beitreten.

In den 1970er-Jahren ist das alte Gebäude marode. 1979 bis 1981 entsteht ein neues Kolpinghaus, entworfen durch den Kempener Architekten Heinz Cobbers. Das historische Haus Ludowigs, Peterstraße 24, wird umgebaut, es bekommt für Versammlungen einen kleinen Saal. An der Ecke Hessenwall/Peterstraße schließt sich ein Neubau an, mit Speiserestaurant und großem Saal für aufwändigere Veranstaltungen. Am 18. August 1981 wird das alte Kolpinghaus am Hessenring abgerissen – zum Bedauern vieler Kempener. Zum 125-jährigen Jubiläum am 26. September 1981 wird das neue Haus eingeweiht. Weil der finanzielle Bau-Aufwand durch unvorhergesehene Umstände größer geworden ist als geplant, springt die Stadt ein. Sie übernimmt das neue, ansehnliche Gebäude als Bürgerhaus mit Speiserestaurant und Hotel und verpachtet es an einen Gastronomen. Der Kolpingsfamilie werden verschiedene Räume bis zu zehn Tagen im Jahr für eigene Veranstaltungen zur Verfügung gestellt. Aber die Zeiten haben sich geändert, spezielle Veranstaltungen für Handwerksgesellen gibt es nicht mehr. Heute versteht sich die Kolpingsfamilie als Glaubens-, Bildungs- und Aktionsgemeinschaft mit gemeinsamen Radtouren und Sommerreisen, Gottesdiensten und Wallfahrten. Ein Schwerpunkt ist die Arbeit für junge Menschen wie die Unterstützung der Kempener Kita Christ-König und von Arbol de la Esperanza, einem Straßenkinderhaus in Ecuador.

Dem Kolpingsverein folgt 1859 der Kempener Turnverein, heute: Vereinigte Turnerschaft Kempen. Turnen? Das ist damals etwas ganz Neuartiges. Mit dem Breitensport, wie wir ihn kennen, hat die Körperertüchtigung jener Zeit nichts zu tun. Das Ziel ist vielmehr, Geist und Körper fit zu machen für den Dienst am Vaterland. Anstoß für die Kempener Gründung ist eine Krise in der europäischen Politik: Napoleon III., Kaiser der Franzosen und getrieben von dem Ehrgeiz, der Kometenbahn seines Onkels Napoleon I. zu folgen, will Frankreich wieder die Vorherrschaft in Europa verschaffen. Unter anderem will er – wie schon von 1794 bis 1814 – das linke Rheinufer in französische Hand bekommen.

Der Argwohn der Menschen am Niederrhein wird zur Angst, als Napoleon III. 1859 in Italien aktiv wird, unter dem Vorwand, dort die nationale Freiheitsbewegung gegen den österreichischen Kaiser zu unterstützen. Bei Solferino schlägt am 24. Juni 1859 eine Armee aus Franzosen und Piemontesen das österreichische Heer. Steht jetzt eine französische Invasion am Niederrhein bevor? Eine Welle nationaler Erregung läuft durch das Land. Überall in den 39 Staaten, aus denen Deutschland damals besteht, wollen junge Patrioten Körper und Geist gegen die Bedrohung des Vaterlands stählen, wollen sich zum Turnen und Debattieren treffen – auch in Kempen. Aber wo?

Da liegt doch an der Kuhstraße 15 der Schuppen des Gastwirts Johann Duckweiler, etwas abgesetzt neben dessen Gasthof, dem späteren Kempener Hof. Heute ist an der Stelle die Firma „Tetra Bau“ beheimatet. Solferino ist gerade sechs Wochen vorbei, da treffen sich hier am 15. August 1859 16 Kempener zur ersten Körperertüchtigung, aber auch – das ist ihnen genauso wichtig – zum geistigen und politischen Austausch. Sportlicher Wettkampf ist nicht die Absicht der Vereinsgründer. Auch Konrad Kramer ist dabei, der eigenwillige Kunstkenner und Restaurator, aus dessen Sammlungen 1912 das Kramer-Museum entsteht.

Die Bedingungen im Duckweilerschen Schuppen sind primitiv: Die jungen Männer springen über Sägeböcke und balancieren auf Tischbeinen. Die Gäste, die nebenan in Duckweilers Schankraum bei Bier und Landwurst sitzen, spotten über die „Jecken“. Woher sollen sie auch wissen, was sich daraus entwickeln wird? – Die erste Turnstunde findet ihre Fortsetzung. Mittlerweile hat Napoleon sich anderen Zielen zugewandt, ein Vorstoß der Franzosen an den Niederrhein ist nicht mehr aktuell. Aber in Kempen besteht nun ein Bund liberal gesonnener Männer. In ihrer Weise wollen sie für das Ziel eines einigen Deutschland eintreten, wollen Untertanen zu mündigen Bürgern fördern. Aus der Keimzelle dieser Patrioten entsteht der „Kempener Turnverein“. Am 31. August 1860 wird seine Satzung verabschiedet: Ziel ist, die „geistigen und körperlichen Kräfte“ seiner Mitglieder auszubilden, „erstere durch lehrreiche Unterhaltungen und letztere durch Turn-Übungen“.

Erst ein gutes Jahr später, 1861, folgen im Kreisgebiet die nächsten Gründungen: im Juni in St. Tönis, im September in Lobberich. Und erst ab dem Februar 1862 führt die preußische Regierung den Turnunterricht für Jungen ein – „damit ein an Körper und Geist gesundes Geschlecht von Männern heranwachse“. Unter seinem agilen Vorsitzenden, dem Druckereibesitzer Leopold Wefers, wird der Kempener Turnverein zur Säule des öffentlichen Lebens. Er lädt zu Karnevalsbällen, zu Sommerfesten, Wanderungen und immer wieder zu Turnfesten ein. Aber 1902 kommt es zur Abspaltung eines zweiten Vereins – des Kempener Turnerbunds. Dann, am 8. August 1919, vollzieht sich die Wiedervereinigung des Turnvereins und des Turnerbunds zur „Vereinigten Turnerschaft Kempen“. Das ist die Geburtsstunde des heutigen Vereins. Denn die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ist von wirtschaftlicher Not geprägt, und die Kriegsverluste haben die Mitgliederzahl der beiden Einzelvereine verringert. Gemeinsam ist man doch stärker.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort