Serie 725 Jahre Stadtrechte für Kempen (22) Kempen in der Franzosenzeit

Kempen · 1794 werden die mittelalterlichen Strukturen vom Einmarsch der französischen Revolutionsarmee hinweggefegt. Das ganze linke Rheinufer kommt zu Frankreich. Die Jahrhunderte alten, zersplitterten Herrschaftsgebiete weichen zweckmäßigen Verwaltungsdistrikten. Andererseits verlieren viele junge Männer als Soldaten für den französischen Kaiser Napoleon ihr Leben in fernen Ländern. 20 Jahre lang dauert die „Franzosenzeit“ – bis sie 1815 durch die preußische Verwaltung abgelöst wird.

 Kempen 1912: Im Vordergrund die Möhlenring-Promenade, dahinter das Kloster St. Anna. Der Komplex aus dem 18. Jahrhundert besteht aus einem Wirtschaftsgebäude (rechts) und dem Schwesternkonvent (links). 1802 wurde das Frauenkloster von den Franzosen aufgehoben, ebenso das Franziskanerkloster an der Burgstraße.

Kempen 1912: Im Vordergrund die Möhlenring-Promenade, dahinter das Kloster St. Anna. Der Komplex aus dem 18. Jahrhundert besteht aus einem Wirtschaftsgebäude (rechts) und dem Schwesternkonvent (links). 1802 wurde das Frauenkloster von den Franzosen aufgehoben, ebenso das Franziskanerkloster an der Burgstraße.

Foto: Kreisarchiv Viersen

12. Oktober 1794, in der Honschaft Schmalbroich: Die Franzosen sind da! Es sind Truppen der Französischen Revolution, eine Vorausabteilung berittener Jäger, die jetzt das Kempener Land besetzen, und sie kommen im Namen von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Das hindert sie nicht, sich so aufzuführen, wie siegreiche Invasoren das gemeinhin tun. „Sie schlugen mit den Säbeln unsere Glasscheiben ein“, notiert der Schmalbroicher Bauer Heinrich Goertsches. Die Fremden haben etwas gegen die Religion: Beim Nachbarn zerbricht unter ihren Hieben das Kruzifix, über dem Hoftor eingemauert.

Die Franzosen kommen im Auftrag einer Revolution, die die Welt verändern wird. Am 14. Juli 1789 hat die Bevölkerung in Paris die Bastille gestürmt. Das Staatsgefängnis ist ein Symbol der Unterdrückung durch die absolute Monarchie, durch die hohe Geistlichkeit und den Adel. 1793 wird König Ludwig XVI. hingerichtet. Auf die Kriegserklärung mehrerer europäischer Mächte antwortet die Revolutionsregierung mit der Aufstellung eines hoch motivierten Volksheeres. Zerlumpt und oft barfüßig, aber voller Begeisterung für ihre Ideale bereiten die Revolutionskämpfer den stumpfsinnig gedrillten Söldner-Formationen der Feudalherrscher vernichtende Niederlagen.

In Kempen stellt die französische Kavallerie ihre Pferde in der leer geräumten Paterskirche ab. Die Verwundeten liegen auf Strohsäcken im Franziskanerkloster. Die Verstorbenen werden auf dem Begräbnisplatz für Auswärtige nördlich der Stadt beigesetzt: vor dem Hagelkreuz an der heutigen Terwelpstraße. Weil meist mehrere Soldaten auf einmal bestattet werden und man deren Särge aufeinander schichtet, wächst dort jene Bodenerhebung heran, die noch heute zu sehen ist.

Auf einmal soll’s vorbei sein mit der Jahrhunderte alten Feudalherrschaft? Der Kölner Erzbischof, als Kurfürst Kempens Landesherr, ist abgesetzt worden? Auch wenn sie oft über den Schlendrian geschimpft haben: Die Kempener hängen an ihrer alten Verfassung. „Unterm Krummstab ist gut leben“, sagen sie. Als sich im Oktober 1797 das Gerücht verbreitet, der gnädigste Kurfürst werde wieder zurückkehren, laufen viele jubelnd auf die Straße. Die Schneiderzunft trägt ein Porträt des Kurfürsten Max Franz durch die Stadt. Das Gerücht erweist sich als Falschmeldung. Am 18. Dezember 1797 findet in Kempen die letzte Wahl der beiden Bürgermeister nach dem alten System statt. Nach 475 Jahren, nach der ersten Ratswahl 1322, wird die lieb gewordene städtische Verfassung aufgehoben. Künftig werden der Bürgermeister, der nun die Bezeichnung Maire trägt, und der Rat von oben bestimmt. Zahlreiche Amtsträger verweigern den Eid auf die französische Republik und werden ersetzt.

1798 wird dann das entscheidende Jahr: Im Mai wird die Verwaltung nach französischem Muster modernisiert und vereinheitlicht. Die Jahrhunderte alten Territorien mit ihren einander überlappenden Gebieten werden aufgelöst. Das ganze linke Rheinufer, das vordem 15 geistlichen und 75 weltlichen Herren untertan gewesen ist, kommt an Frankreich und wird in vier Départements eingeteilt, die sich wiederum in Arrondissements und Kantone gliedern. Kempen wird nun Hauptort eines eigenen Kantons. Der gehört zum Département de la Roer, genannt nach dem Flüsschen Rur, mit Aachen als Sitz des Präfekten, und zum Arrondissement Krefeld, wo der Unterpräfekt sitzt. Kurz: Großräumige, aus Überlegungen der Zweckmäßigkeit geschaffene Verwaltungsbezirke bieten nun Raum für viel versprechende Entwicklungen.

Im Rahmen dieser Neuordnung wird das neuzeitliche St. Hubert geboren. Wo sich heute die St. Huberter Pfarrkirche erhebt, von 1846 bis 1850 erbaut, stand vorher eine Kapelle, die auch schon dem heiligen Hubertus geweiht war. Ende April 1798 legt die französische Verwaltung zwei bäuerliche Verwaltungsbezirke, die Honschaften Broich und Orbroich, zu einer Gemeinde zusammen. Die erhält ihren Namen nach ihrem Mittelpunkt, der Pfarrkirche St. Hubertus. Um sie hat sich im Laufe der Zeit eine kleine Siedlung gebildet, die 1790 schon aus 43 Häusern besteht. Am 23. Oktober 1800 wird aus der Commune St. Hubert eine Mairie, zu deutsch: eine Bürgermeisterei.

Unter der neuen Regierung sollten alle Menschen, alle Konfessionen gleich sein, Adel und Geistlichkeit verloren ihre Privilegien. Die bis dahin ausgestoßenen Juden kehrten nach Kempen zurück. Die Revolutionsregierung war kirchenfeindlich; seit dem November 1789 zog sie in Frankreich alle kirchlichen Güter ein, künftig unterstand die Kirche weitgehend der Kontrolle des Staates. Der Vorschlag, den geistlichen Besitz zu veräußern, um die Staatsschulden zu tilgen, kam von einem ehemaligen Geistlichen: von Charles de Talleyrand, vormals Bischof von Autun. Auch am Niederrhein, der 1794 von den Truppen der französischen Revolutionsregierung besetzt worden war, setzte nun die Säkularisierung ein – die Verweltlichung des geistlichen Besitzes.

Aufgelöst wird in Kempen das um 1425 gegründete Annenkloster, nach dem heute noch die Klosterstraße heißt. Aufgelöst wird auch das 1748/49 als Nachfolger eines älteren Baus errichtete Franziskanerkloster, heute als Kulturforum bekannt. Am 7. August 1802 müssen die 17 noch verbliebenen Franziskaner-Patres ihr Domizil an der Kempener Burgstraße verlassen. Die Burg, bisher Sitz der kurkölnischen Verwaltung, kommt an einen Krefelder Seidenbaron.

Die französische Verwaltung ordnet der Hygiene wegen Friedhöfe außerhalb der Siedlungen an. Der mittelalterliche Kirchhof um St. Marien im Zentrum der Stadt ist ja auch überfüllt. Bereits 1795 hat der Totengräber Mühe, zwischen den alten Gräbern für neue Leichen Platz zu schaffen. 1797 findet man einen neuen Begräbnisplatz an der Kreuzkapelle. Aber die Bevölkerung hängt an ihrem alt hergebrachten „Gottesacker“. Als die erste Beerdigung einer weiblichen Leiche an der Kreuzkapelle stattfinden soll, holen Kempener Frauen die Tote nach der Leichenmesse mit Gewalt aus dem Glockenturm und setzten sie in einem hastig geschaufelten Grab vor der Kirche bei. Woraufhin man für den neuen Friedhof ein Grundstück vor dem Kuhtor ausguckt, an der heutigen Kerkener Straße. Ostern 1825 findet dort das erste Begräbnis statt.

Modernisierung auch in der Straßenbeleuchtung: Hatte man in Kempen bis zum Einmarsch der Franzosen nur einen Feuerkorb über dem Portal des Rathauses hängen, verordneten die neuen Herren nun, dass die Bürger zur besseren Beleuchtung der Straßen Kerzen in ihre Fenster zu stellen hätten. Bald wurden die Wachslichter durch Laternen an den Straßenecken ersetzt, die die Nachbarschaften mit Rübenöl befeuerten. 1810 konnte der Kempener Maire, der Bürgermeister, dem Unterpräfekten voll Stolz berichten, dass Kempen als einzige Stadt weit und breit über eine geregelte Straßenbeleuchtung verfüge.

Seit 1799 bestimmt ein gewisser Napoleon Bonaparte als Erster Konsul die Geschicke des neuen Frankreich. Am 18. Mai 1804 hat er sich zum Kaiser der Franzosen proklamieren lassen. Auf einer Inspektion des annektierten Rheinlands kommt er am 12. September 1804 durch Kempen. Als sein Wagen morgens um sieben durch das Engertor einrollt, bereitet die Bevölkerung ihm einen begeisterten Empfang. Der Imperator kommt von Krefeld, wo Napoleon bei dem Seidenbaron Friedrich von der Leyen übernachtet hat. Böller donnern, ein Empfangskomitee ist angetreten. Dessen Chef Gerhard Witthoff, dem das heutige Café Peerbooms gehört, hält eine Rede auf Französisch, und der Kaiser, obwohl er es wie immer eilig hat, muss sich die Radebrecherei huldvoll anhören.

Auf dem Marktplatz, mit den Farben der Trikolore geschmückt, kredenzt Bürgermeister Franz Joseph Tenhoff den Ehrenwein – Napoleon trinkt ihn angesichts der frühen Stunde lieber nicht, dankt aber mit einer gnädigen Handbewegung. Er steigt auch nicht aus, sondern rollt mit seinem Gefolge durchs Kuhtor weiter über Wachtendonk und Straelen zum Schloss Haag bei Geldern, wo er übernachtet. Allerdings zieht der Tross in verlangsamtem Tempo, denn zehn Kutschen und 40 Reiter aus Kempen geben ihm das Geleit bis nach Schmalbroich, und denen darf er doch nicht einfach davonfahren, das hätte nur böses Blut gegeben.

Des Kaisers Herrschaft ist schließlich auf die Treue seiner Untertanen angewiesen. Die müssen seine zahlreichen Kriege finanzieren oder, so sie männlich sind, dafür ihre ganz persönlichen Knochen hinhalten. Auch die jungen Niederrheiner haben für den französischen Kaiser als Soldaten ins Feld zu rücken; nach Spanien, Russland und überallhin, wo der Imperator kämpfen lässt. So ruht mancher brave Kempener, der die französisch-blaue Uniform anziehen musste, in fremder Erde.

Seinen Untergang leitet der Imperator ein, als er im Juni 1812 in Russland einfällt. Bis zur Besetzung Moskaus verläuft der Feldzug planmäßig. Aber die Russen zünden ihre Metropole an. Der Rückzug in klirrender Kälte und bei erbärmlicher Verpflegung wird zur Katastrophe. Von der 475 000 Mann starken Feldarmee kommen nur 20 000 zurück. Unter ihnen der Sohn des St. Huberter Schulmeisters, Ludwig Heisen. Auf dem Rückzug desertiert er. In St. Hubert versteckt er sich bei seiner Mutter im Schulhaus. Als zwei Gendarmen aus Krefeld nach ihm suchen, flüchtet er zwischen die Sträucher des benachbarten Friedhofs, entkommt nur knapp.

Schließlich wird der Niederrhein preußisch. Am 25 April 1815 nimmt in Aachen König Friedrich Wilhelm III. die Huldigungen seiner neuen Untertanen entgegen – darunter auch einer Abordnung aus Kempen. Die Vorgeschichte: Im Oktober 1813 hat Napoleon in der „Völkerschlacht“ bei Leipzig eine endgültige Niederlage erlitten. Kurz vorher hat er ein Friedensangebot Österreichs abgelehnt, den Rhein zur Grenze Frankreichs zu machen. Hätte er angenommen, wäre der Niederrhein heute womöglich französisch. Es ist anders gekommen. 1815 beschließt der Wiener Kongress, dass das Rheinland zu Preußen kommt.

 Die neuen Verwaltungsdistrikte: Blau markiert der Kanton Kempen im rot eingezeichneten Arrondissement Krefeld.

Die neuen Verwaltungsdistrikte: Blau markiert der Kanton Kempen im rot eingezeichneten Arrondissement Krefeld.

Foto: Petra Kamplade

Trotzdem genießen die Niederrheiner heute noch die Neuerungen, die der Code Civil, das Gesetzbuch Napoleons, ihnen gebracht hat: Gewerbefreiheit und freie Wahl des Wohnsitzes; Grundstückskataster, Ziviltrauung und Standesamt; einheitliche Maße wie Meter und Kilogramm; Gleichheit vor dem Gesetz. 1816 wird der Kreis Kempen aus der Taufe gehoben. Er ist – wenn wir den 1929 errichteten Landkreis Kempen-Krefeld als Vater bezeichnen – der Großvater des heutigen Kreises Viersen.

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