SERIE 725 Jahre Stadtrechte für Kempen (20) Eine Frau rettet Kempen vor Plünderung

Kempen · In den Straßennamen des Kempener Frauenviertels sind honorige Damen verewigt wie die hochherzige Stifterin Maria Basels und Minna Meckel, die Vorsitzende des Katholischen Fürsorgevereins. Den Namen Margarethe Molanus sucht man vergebens. Dabei hat die sich um die Stadt hoch verdient gemacht. Mit ihrem Charme und ihrer Courage besänftigte sie im Siebenjährigen Krieg einen erbosten General, der bereits eine Plünderung befohlen hatte.

 Eine Darstellung der Schlacht, die 1758 zwischen Willich, Anrath und Krefeld stattfand und die zu Unrecht „Schlacht an der Hückelsmay“ genannt wird. Links oben sind die Stellungen der siegreichen Truppen zwischen Kempen und Hüls eingezeichnet, von denen aus sie sich zum Schlachtfeld in Bewegung setzten.

Eine Darstellung der Schlacht, die 1758 zwischen Willich, Anrath und Krefeld stattfand und die zu Unrecht „Schlacht an der Hückelsmay“ genannt wird. Links oben sind die Stellungen der siegreichen Truppen zwischen Kempen und Hüls eingezeichnet, von denen aus sie sich zum Schlachtfeld in Bewegung setzten.

Foto: Stadtarchiv Willich

15. Juni 1758, um Mitternacht. Über die Kuhstraße trabt ein Trupp schwarz uniformierter Husaren; es sind Hannoveraner, Verbündete der preußischen Armee in deren Kampf gegen die Franzosen. Für den preußischen Nachschub wollen die Kavalleristen in der Stadt Fuhrwerke beschlagnahmen. Da biegt aus der Judenstraße eine Abteilung französischer Husaren – es sind etwa 30 Mann – in die Kuhstraße ein. Einige Säbelhiebe zischen durch die Luft, aber die hannoverschen Reiter sind den Franzosen zahlenmäßig hoffnungslos unterlegen. Sie reißen ihre Rösser herum, preschen im Galopp durch das Kuhtor aus der Stadt hinaus. Am nächsten Morgen ziehen sich auch die Franzosen zurück: Die gegnerische Armee soll im Anmarsch sein.

Wie kommen die Soldaten nach Kempen? Ganz einfach: Nach Jahrzehnten des Friedens bedroht wieder ein Krieg das Land. Als er zu Ende gegangen ist, wird man ihn den Siebenjährigen nennen. Der Zusammenhang: Noch einmal versucht der preußische König Friedrich II., später auch „Der Große“ genannt, den Besitz der Provinz Schlesien zu behaupten, die er in den 1740er-Jahren der Habsburgerin Maria Theresia von Österreich abgerungen hat. Zwei Kriege mit gleicher Zielsetzung sind für Preußen günstig ausgegangen. Diesmal aber steht König Friedrich gegen eine schier übermächtige Koalition aus Frankreich, Österreich-Habsburg und Russland. Da Preußen andererseits seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts mit den Herzogtümern Kleve und Geldern, später auch mit der Grafschaft Moers (zu der auch Krefeld gehörte) wertvollen Besitz am Niederrhein erworben hat, wird unser Gebiet bald in die Kriegshandlungen einbezogen. Einziger Verbündeter Preußens ist England. Dessen König ist gleichzeitig auch Kurfürst von Hannover; das erklärt die Anwesenheit hannoverscher Husaren in Kempen. Sie sind Spielfiguren in einem globalen Machtkampf: Wenn in Europa preußische Truppen mit ihren Verbündeten gegen die Franzosen kämpfen, können die Engländer ihre eigenen Soldaten in Übersee einsetzen, in Indien und Nordamerika, um den Franzosen ihre dortigen Kolonien abzunehmen. So geschieht es dann auch.

Aus der Weltpolitik zurück nach Kempen: Am Morgen nach dem nächtlichen Scharmützel auf der Kuhstraße reitet eine Abteilung aus 200 hannoveranischen Husaren von Aldekerk heran und kampiert vor der Burg, im Bereich der heutigen Siegfriedstraße. Sie sind die Vorhut der aufmarschierenden Armee aus Hannoveranern, Hessen, Braunschweigern und lippe-bückeburgischen Soldaten, Alliierte des preußischen Königs Friedrich II. Da nähert sich auf der Straße von Hüls eine größere französische Husarenformation. Sie will aufklären, ob sich bereits feindliche Truppen in Kempen aufhalten. Kaum hat der Ausguck auf dem Burgturm die anrückenden Franzosen wahrgenommen, schickt der Major, der die hannoveranische Schwadron kommandiert, seine Reiter in die Stadt und lässt Enger- und Petertor verschließen. Die Kempener neigen innerlich den Franzosen zu, denn ihr Landesherr, der Kurfürst Clemens August, ist ein Bundesgenosse Frankreichs gegen die Preußen, und in ihrer Untertanentreue haben die Kempener seine Haltung übernommen. Schadenfroh beobachten sie die Verteidigungsmaßnahmen der preußischen Kavalleristen. Einer versteigt sich gar zu dem Ausruf: „Seht, wie die preußischen Hunde davonjagen, wenn die Franzosen kommen!“

Das hätte er nicht sagen sollen ... Als die französische Aufklärungsabteilung die Stadttore verschlossen sieht und die Hannoveraner auf der Mauer wahrnimmt, zieht sie wieder nach Hüls ab. Der hannoveranische Befehlshaber aber reagiert auf die Beleidigung seiner Waffenehre scharf: 200 Dukaten Geldstrafe für die Stadt Kempen ordnet er an und bei Todesstrafe das Verbot für jeden, den Ort zu verlassen. Wenn die Kempener ihm feindselig gegenüberstehen, rechnet er damit, ausspioniert zu werden; vielleicht kommt es sogar zu verdecktem Widerstand. Die „verräterischen Äußerungen“ des vorlauten Bürgers werden dem Oberbefehlshaber der mit Preußen verbündeten hannoverschen Truppen überbracht, dem Feldmarschall Herzog Ferdinand von Braunschweig. Der hält sich gerade bei Aldekerk auf und verzehnfacht das Bußgeld. Als die Nachricht am nächsten Tag die Stadt erreicht, macht sich in der Bürgerschaft verzweifelte Ratlosigkeit breit. Aber irgendwie wird das Geld aufgetrieben und ist pünktlich zur Stelle.

Trotzdem spitzt die Lage sich zu. Am 18. Juni trifft der Generalmajor Prinz von Holstein auf der Burg ein, Befehlshaber eines heranrückenden Armeekorps, und wird von den Kempener Honoratioren ehrfürchtig begrüßt. Der General fordert unter Androhung weiterer Strafmaßnahmen die Auslieferung der frankophilen Schreihälse. Dazu sind die Kempener, wie sie vorgeben, nicht in der Lage. In Wirklichkeit wollen sie ihre franzosenfreundlichen Mitbürger nicht ans Messer liefern. Daraufhin lässt Holstein, als seine Untersuchungen im Sande verlaufen, das Franziskanerkloster durchsuchen. Dort, hat er gehört, sollen sich Franzosen befinden. Großes Malheur entsteht, als im Kloster, das als Lazarett dient, tatsächlich kranke französische Soldaten gefunden werden. In seiner Wut befiehlt der Prinz, zwei der schönsten Häuser plündern zu lassen, wenn der Kempener Schmähruf nicht schleunigst aufgeklärt werde. Für den Fall der Nichtaufklärung droht er weitere Plünderungen an. Zudem hätten die Bürger alle Waffen abzuliefern.

In dieser brenzligen Situation, als der Stadt weitere Strafmaßnahmen drohen, bewährt sich eine Frau als die bessere Diplomatin. Margarethe, die Witwe des Schultheißen Anton Molanus, geht zum Prinzen von Holstein und findet nach einigem Warten Gehör. Margarethe Molanus ist eine attraktive Frau, schlank und adrett, mit proper gepudertem Haar, ganz nach dem Geschmack jenes galanten Zeitalters, des Rokoko. Ihr Anmut, ihr Charme verwandeln den bärbeißigen General in einen katzbuckelnden Kavalier. Auch die 60 Reichstaler, die sie ihm als persönliches Geschenk in ihrem „Pompadour“ mitbringt – das ist eine beutelartige Damenhandtasche, damals groß in Mode – nimmt er gerne entgegen. So endet die Affäre glimpflich. Kempen ist noch mal davongekommen.

 Die anmutige Margarethe Molanus bewahrte Kempen vor einer Plünderung.

Die anmutige Margarethe Molanus bewahrte Kempen vor einer Plünderung.

Foto: Kreisarchiv Viersen

Am 19. Juni nachmittags kommt der Oberbefehlshaber, Herzog Ferdinand von Braunschweig, in Kempen an und schlägt sein Hauptquartier in der Burg auf. Durch die Nachricht von Margarethe Molanus’ Charme-Offensive besänftigt, ordnet er an: Wenn keine Spionage betrieben würde, hätten die Kempener nichts mehr zu befürchten. Vier Tage später, am 23. Juni 1758, liefert der hannoveranische Feldherr den Franzosen auf dem großen Heidegebiet zwischen Willich, Anrath, St. Tönis und Fischeln eine Schlacht. Durch professionelle Aufklärung, die ihn zu einem gewagten Umgehungs- und Täuschungsmanöver veranlasst, trägt Herzog Ferdinand von Braunschweig den Sieg über den zahlenmäßig weit überlegenen Gegner davon. Als er am späten Abend über das Schlachtfeld reitet, soll er beim Anblick der Verwundeten gesagt haben: „Das ist nun in meinem Leben das zehnte Schauspiel dieser Art, das ich sehe; wollte Gott, es wäre das letzte!“

In die Geschichte ist dieses für den Ausgang des Siebenjährigen Krieges ziemlich unbedeutende Treffen als „Schlacht an der Hückelsmay“ eingegangen. Zu Unrecht, denn die Hückelsmay, am Forstwald gelegen, war im Verlauf des Kampfgeschehens nur ein Nebenschauplatz. Aber sie liegt zentral zwischen Krefeld, Anrath, Viersen, St. Tönis und Hüls, und die Landwehrvereine dieser Orte zogen mit geschickter Public Relation die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf ihre Orte, indem sie der Schlacht zu ihrem 100. Jahrestag, am 23. Juni 1858, eben an der Hückelsmay ein Denkmal setzten. Es steht heute noch und wird von einem preußischen Adler gekrönt, obwohl preußische Einheiten an der Bataille vor 100 Jahren gar nicht teilgenommen hatten. Dass Kempen vor der Schlacht das Hauptquartier der siegreichen Truppen gewesen und nur um Haaresbreite einer Plünderung entgangen war, das war damals keinem mehr bewusst. Erst der Kempener Stadtarchivar Jakob Hermes hat 1968 und 1982 auf die strategische Bedeutung Kempens für diese Bataille hingewiesen. Er hat auch die Episode von der schönen Margarethe Molanus überliefert, die wir hier dargestellt haben.

Für die Kempener war die kurze Besetzung durch die Hannoveraner die vorerst letzte Begegnung mit fremdem Militär. Ein kurzes Nachspiel folgte noch, aber das bereitete eher Freude: Kurz nach dem Ende des „Siebenjährigen Krieges“ besichtigte der preußische König Friedrich II. das denkwürdige Schlachtfeld und kam auf seiner Rückfahrt aus Krefeld, wo er die Seidenmanufakturen besichtigt hatte, durch Kempen. Am 11. Juni 1763 erschienen Ihre Majestät mit dem Feldherrn der Schlacht, dem Herzog von Braunschweig, und kleinem Gefolge auf dem Krefelder Weg. Er kam zu unbequemer Zeit – es war erst vier Uhr morgens – doch die Kempener empfingen den berühmten Monarchen mit allem Prunk. Ob seines zähen Widerstands gegen weit überlegene Gegner war „der alte Fritz“ nämlich seit kurzer Zeit zu einer Symbolfigur deutscher Mannhaftigkeit geworden – was damit zusammenhing, dass jetzt, nach langer Bedrückung durch ausländische Mächte, ein erstes deutsches Nationalgefühl aufkeimte. Auch in Kempen machte sich patriotische Begeisterung breit. Dass der Preußenkönig normalerweise nur französisch sprach und die deutsche Kultur als primitiv verachtete, davor verschloss man lieber die Augen.

11. Juni 1763. Seit der ersten Morgendämmerung um viertel nach drei stehen die Bürger mit dem Stadtrat an der Spitze, steht die Junggesellen-Schützenkompanie mit Gewehr und fliegenden Fahnen vor dem Engertor bereit. Auch die Thomaeer mit ihren Professoren. Aber König Friedrich pflegt keine Zeit zu verschwenden. Er sieht sich als den ersten Diener seines Staates, Rastlosigkeit ist sein Lebensprinzip. Er fährt, vom Empfangskomitee begleitet, langsam zum Markt, hält sich nur so lange auf, wie nötig ist, um seine acht Kutschpferde zu wechseln. Währenddessen hält der Stadtsekretär Lorenz Rosen eine untertänige Begrüßungsansprache und präsentiert einen Pokal mit Ehrenwein. Aber der König, der in seiner Kutsche sitzen bleibt, hält nicht viel von Alkohol, schon gar nicht so früh am Morgen. So bedankt er sich unter mehrmaligem Lüften des Hutes. Er empfiehlt den Bürgern, den Wein auf die Gesundheit ihres Landesherrn, des Kurfürsten von Köln, zu trinken und rollt unter dem Schießen und Trommeln der Schützen davon. Kurz: Preußens Gloria hat Kempen nur gestreift.

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