SERIE 725 Jahre Stadtrechte für Kempen (13) In den Wirren des 15. Jahrhunderts

Kempen · Das 15. Jahrhundert war Kempens große Zeit – aber glücklich war sie nicht. Feindliche Söldner trieben den Bauern das Vieh weg. Das führte zur Anlage einer geweihten Asylstätte, aus der das heutige St. Hubert hervorging. Stadt und Land Kempen gaben viel Geld aus, um Söldner anzuheuern und sie mit hoch modernen Feuerwaffen zu versehen. Erstmals sind Kempener Schützen überliefert. Am Ende steht die Teilnahme der Stadt an der Belagerung von Neuss.

 Die St. Huberter Kirche ging aus einer 1446/47 angelegten Kapelle hervor.

Die St. Huberter Kirche ging aus einer 1446/47 angelegten Kapelle hervor.

Foto: Norbert Prümen

Winter 1447: Vom Kempener Kirchturm gellen die Glocken. Der Wächter, der Tag und Nacht in der Turmspitze sitzt, hat Beunruhigendes ausgemacht: Im Nordwesten des Landes, wo die Straße von Wachtendonk kommt, steigt eine Rauchsäule auf. Da müssen wieder klevische Freibeuter durch die Landwehr gekommen sein. Die Landwehr, das ist die Befestigung aus Erdwall, Graben und dichtem Buschgewächs, die die Grenzen des Landes Kempen sichert. Jetzt muss der Trupp Kempener Schützen, der sich für solche Notfälle in der Stadt bereithält, gegen die Feinde ausrücken.

Dabei könnte alles so friedlich sein. Jetzt, in der Mitte des 15. Jahrhunderts, ist Kempen der unbestrittene Mittelpunkt zwischen Rhein und Maas; zwischen Geldern und Straelen, Neuss und Mönchengladbach. In den Augen der Zeitgenossen eine mittlere Großstadt, deren Fläche das Zwanzigfache des damaligen Krefelder Stadtbezirks beträgt. Die Sicherheit ihrer Befestigung macht sie zu einem gefragten Umschlagplatz. Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts verfügt die Stadt über sechs Jahrmärkte; das ist einzig im Erzbistum Köln. Nach Köln und in andere Städte werden vor allem Agrargüter exportiert – Korn ist damals Kempens wichtigstes Absatzprodukt. Aber auch Tuche, Leinen, Vieh, Öl und Bier. 1421 wird an der heutigen Klosterstraße der Beghinenhof St. Anna gegründet und zum Ausgangspunkt eines der bedeutendsten Frauenklöster am Niederrhein.

Aber Kempen braucht sein Geld, um sich Frieden und Sicherheit zu erkaufen. Denn die Zeiten sind unruhig. Im Deutschen Reich geht’s ­drunter und drüber. Die zentrale Gewalt, das Kaisertum, ist geschwächt. Neue Machtfaktoren treten an seine Stelle. Auf der einen Seite stehen die Fürsten, die ihre Macht ausweiten wollen. Auf der anderen Seite wollen die Städte mit ihrem selbstbewussten Bürgertum und der Adel ihre Freiheit gegenüber den Fürsten behaupten. Kempens Landesherren, die Erzbischöfe von Köln, betrachten sich in dieser krisengeschüttelten Epoche weniger als Seelsorger, sondern vor allem als Landesfürsten und Feldherren. Sie verbringen mehr Zeit im Sattel eines kräftigen Schlachtrosses als vor dem Altar, und der Umgang mit Schwert und Armbrust ist ihnen vertrauter als die Lektüre des heiligen Evangeliums.

Da ist der Erzbischof Dietrich von Moers, der von 1414 bis 1463 regiert. Fünf Jahre lang – von 1444 bis 1449 – versucht er, die reiche Stadt Soest, die sich seiner Herrschaft entziehen will, wieder in seine Gewalt zu bringen. Die Anwerbung und Ausrüstung der 15.000 Mann, die er gegen Soest führt, kosten eine Menge Geld. Das holt er sich zum Teil von den Kempenern. Zunächst zeigt er sich der Stadt gegenüber großzügig: 1444 bewilligte er Kempen einen zusätzlichen Markt am Dienstag vor Halbfasten; er besteht noch heute als „Halbfastenmarkt“. Aber er verlangt eine Gegenleistung: ein gewaltiges Darlehen für seine Rüstungen in Höhe von 14.000 Gulden, nach heutigen Maßstäben mehr als 20 Millionen Euro. Wo nahmen die Bürger das Geld her? Sie pflegten damals gute Verbindungen zu den bedeutenden Handelsstädten Neuss und Köln. Dort lebten vermögende Bürger, die ihr Kapital sicher anlegen wollten. Sie gewährten der Stadt Kempen Darlehen; als Gegenleistung bekamen sie Erbrenten: Regelmäßige Geldzahlungen, die nicht mit dem Tode der Gläubiger erloschen, sondern an deren Nachfahren weiter gezahlt wurden.

Zur Belastung durch Schulden kommen Gewalttaten durch feindliche Truppen. 1440 hat Herzog Arnold von Geldern die Herrlichkeit Wachtendonk an Herzog Adolf von Kleve verpfändet. Der wiederum ist mit der Stadt Soest verbündet, also ein Feind des Kölner Erzbischofs. In Wachtendonk sind klevische Soldaten stationiert. Seit Beginn der Kämpfe um Soest im Jahre 1445 fallen sie immer wieder in Kempen ein. Wenn ein wohlhabender Bürger in ihre Hand gerät, nehmen sie den als Geisel und lassen ihn erst gegen ein hohes Lösegeld frei.

Von den klevischen Überfällen werden vor allem die Honschaften Broich und Orbroich im Norden des Amtes Kempen heimgesucht. In ihrer Not suchen die Bauern Zuflucht beim heiligen Hubertus, dem zu jener Zeit besondere Verehrung zuteil wird. Mit Genehmigung des Erzbischofs umzäunen sie den Platz, auf dem heute die St. Huberter Kirche steht, und errichten 1446/47 in seiner Mitte eine Kapelle, die sie St. Hubertus und anderen Heiligen weihen. Die Heiligen, davon sind sie überzeugt, werden ihnen zu Hilfe kommen, wenn die klevischen Soldaten wieder ins Land einfallen. Dann nämlich, so glauben sie, müssten sie nur ihr Vieh in die Kapelle treiben sowie ihre Familien dort in Sicherheit bringen, und alles wäre vor den Räubern gerettet.

Vieh und Besitztümer gerettet haben die Heiligen zwar nicht, aber aus der St.-Hubertus-Kapelle wurde eine Pfarrkirche, um die sich seit dem 18. Jahrhundert die Häuser ansiedelten. 1446 schlägt, wenn man so will, die Geburtsstunde St. Huberts. Das alles ist gründlich dargestellt in der „Geschichte von St. Hubert“, die 1993 der Kempener Historiker Friedhelm Weinforth im Auftrag des St. Huberter Heimatvereins herausbrachte.

1450 war die Soester Fehde beendet, aber Frieden sollte so bald nicht kommen. Kempens Landesherr, der Kölner Erzbischof Dietrich von Moers, war darauf bedacht, seiner Familie möglichst viel Macht zu verschaffen. 1450 gelang es Dietrich, seinem Bruder Heinrich die Bischofssitze in Münster und Osnabrück zu verschaffen. Diese Machtvergrößerung der Fürstenfamilie von Moers ging dem Herzog von Kleve zu weit, und das hieß: Der Krieg zwischen Kurköln und Kleve ging weiter.

Die Überfälle klevischer Söldner dauerten also an. Was tun? Früher hatten sich die Einwohner von Stadt und Land Kempen bei Gefahr selbst verteidigt. Jeder freie Bauer besaß, wie Quellen der Kempener Honschaften berichten, einen Harnisch. Das war meist nur eine Metallplatte, die er sich als Schutz vor den Oberkörper band. Das kräftigste Ross im Stall war zum Einsatz im Kriegsfall bestimmt. Aber die Zeiten, da Amateure Krieg führten, waren angesichts der komplizierter werdenden Waffentechnik vorbei. Einen Ausweg sah man darin, eine Art mobile Einsatztruppe aufzustellen: Freiwillige Schützen, die gut mit Pfeil und Bogen umgehen konnten. Erstmals 1447 lesen wir in einer Rechnung der Großen Honschaft von Kempener Schützen. Für ihre Schützentracht in den Stadtfarben Rot und Blau, für Spieß, Schießbogen und Pfeile brauchten sie Geld; fast alle Schützen waren deshalb Bürger der wohlhabenden Stadt Kempen. Für ihre Verpflegung gaben Stadt und Land Kempen größere Geldsummen aus. Aber bald zeigte sich: Gegen die straff geführten Berufssoldaten, die die Landesfürsten ins Feld führten, kam die Volksmiliz aus Schützen und Bauern nicht mehr an. 1468 wurden noch einmal Kempener Hilfstruppen aufgeboten, um zusammen mit erzbischöflichen Söldnern endlich die Räuberhöhle Wachtendonk auszuräuchern. Aber der buntscheckige Haufen verhielt sich so undiszipliniert, dass der Erzbischof die Unzuverlässigkeit der Kempener öffentlich tadelte.

Profi-Kämpfer mussten her. Noch hatten die Kempener Geld, und zur Verteidigung heuerten sie mit Vermittlung ihres Landesherrn, des Erzbischofs von Köln, Söldner an. Die kamen meist aus Westfalen, wo sie wohl in den Kämpfen um Soest Erfahrung gesammelt hatten. Seit dem Winter 1445 bewachten sie die mit Schlagbäumen gesicherten Durchgänge durch die Landwehren und schlugen sich mit den klevischen Plünderern herum. Aber sie verlangten moderne Rüstungstechnik in Form der neuen Feuerwaffen. Bei deren Anschaffung war die Stadt Kempen führend in der Region. Feuerwaffen waren in Deutschland schon seit 1350 zum Einsatz gekommen. Aber sie waren noch sehr primitiv. Die Gewehre jener Zeit waren nur einfache Eisen- oder Bronzerohre, hinten verschlossen und auf einen Holzpflock montiert, noch ohne Zielvorrichtung. Geladen wurden sie mit einer Pulvermischung aus Holzkohle, Schwefel und Salpeter. Die jagte eine Stein- oder Bleikugel aus dem Lauf. Das hatte vor allem psychologische Wirkung. Pulverknall und Rauch erschreckten den Feind. Präzise Treffer wie mit der Armbrust waren selten.

Zur Anschaffung moderner Rüstungstechnik machen die Kempener Honschaftsrechnungen genaue Angaben. Erstmals 1443 kauften die Bewohner von Stadt und Land Kempen in Bonn Schießpulver ein: „Donnerkraut“ nannte man es damals. Absicht war wohl, die modernen Kampfmittel zunächst zu testen. Zwei Jahre später war man so weit, dass man einen „Donnermeister“ – heißt: einen Artillerieexperten – engagierte und die erzbischöflichen Söldner, die auf der Kempener Burg stationiert waren, mit neuen Bleikugeln für ihre Feuerrohre versah. Die Burgbefestigung selbst wurde verstärkt. Wo sie am schwächsten war, zur Feldseite hin, schüttete man 1447 eine Plattform aus Erde auf, nach außen von einer Steinmauer gedeckt. Auf diesem Bollwerk aus Erde wurden kleine Kanonen aufgestellt. Die Umrisse dieser Erdbastion aus dem 15. Jahrhundert sind heute noch im Verlauf des Burgrings abzulesen. Erst im Dezember 1468 ging der Krieg mit Kleve zu Ende.

Als 1463 Erzbischof Dietrich von Moers nach fast 50-jähriger Regierung starb, waren die Kassen des Kölner Erzstifts wie der Stadt Kempen geleert. Dietrichs Nachfolger als Erzbischof und Landesherr wurde Ruprecht von der Pfalz. Sein Vorgänger hatte, um Geld für seine Kriege zu bekommen, zahlreiche Einnahmequellen des Landes verpfändet. Das sollte nicht wieder geschehen. Dafür wollten die Landstände, die Vertretungskörperschaften des Kölner Erzstifts gegenüber dem Landesherrn, schon sorgen. Bevor die Herren des Domkapitels den neuen Erzbischof wählten, verpflichteten sie ihn, keine Anleihe ohne ihre Zustimmung aufzunehmen. Das versprach Ruprecht, aber er hielt sich nicht daran. Ohne Geldmittel hätte er als Landesherr keine Macht gehabt, das wollte er nicht hinnehmen. Das Ergebnis war ein Krieg mit den Ständen, die 1473 als eine Art Gegen-Erzbischof zu Ruprecht den Domherrn Hermann von Hessen wählten. Ruprecht suchte Hilfe von außen. Den wichtigsten Bundesgenossen fand er in dem burgundischen Herzog Karl dem Kühnen. Dessen Ziel war die Errichtung eines großen Territoriums von Südfrankreich bis zur Nordsee. Als Bündnispartner des Kölner Erzbischofs hoffte er, am Niederrhein Fuß zu fassen.

1475 kommt dann, wie die Kempener Landrechnung verzeichnet, der Burgunderherzog persönlich nach Kempen. Wahrscheinlich hat er sich mit dem abgesetzten Erzbischof Ruprecht auf der Burg getroffen, um die Lage zu erörtern. Die ist brenzlig. In unbeirrbarer Untertanentreue halten die Kempener zu ihrem Landesherrn, auch wenn dessen Schicksal längst besiegelt ist. Kempen ist im Erzstift Köln die letzte Stadt, die dem unglücklichen Kirchenfürsten Asyl gewährt. Schließlich erlaubt Erzbischof Ruprecht den Kempenern, auf die Seite seines Gegners überzugehen, und verlässt die Stadt im Dunkel der Nacht. Am 19. Juli 1477 schließt eine Kempener Delegation auf dem erzbischöflichen Hof Doermel bei Oedt mit Abgesandten des siegreichen Hermann von Hessen einen Friedensvertrag. Damit sind für Kempen drei Jahrzehnte im Schatten der Kriege vorbei. Aber am Horizont zeichnen sich schon die Konturen der Glaubenskämpfe ab.

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